Ausser Dienst - Eine Bilanz
deutschen Finanzföderalismus.
In meinen Augen bleibt es für lange Zeit eine der herausragenden Aufgaben jeder Bundesregierung und der sie tragenden Bundestagsmehrheit, den ökonomischen Aufholprozeß des deutschen Ostens wieder in Gang zu setzen und sodann in Gang zu halten. Zu den Mindestvoraussetzungen gehört, daß der Bund seine eigenen oder die von ihm bezahlten Dienstleistungen, wo immer dies möglich ist, an ostdeutsche Standorte verlegt. Das gilt für die noch in Bonn verbliebenen Ministerien und für andere Bürokratien des Bundes, es gilt vor allem für neue Forschungsinstitute und Forschungsvorhaben und für den noch bis 2013 vom Bund finanzierten Universitätsausbau. Wenn der Bund schon bei seinen eigenen Verwaltungen die gesamtdeutschen Notwendigkeiten mißachtet, muß man sich über die Stagnation des ostdeutschen Aufholprozesses nicht wundern. Wie gut oder wie schlecht wir es auch machen und wieviel Zeit auch immer benötigt werden wird – letzten Endes wird der schmerzhafte Prozeß wahrscheinlich gelingen; die Vitalität unseres Volkes erscheint mir als durchaus ausreichend.
Wenn wir unseren Sozialstaat und damit den inneren Frieden in unserer Gesellschaft erhalten wollen, werden uns die stetig zunehmenden Veränderungen im Altersaufbau der Gesellschaft für lange Zeit vor immer neue Aufgaben stellen. Als 1891, am Ende der Bismarck-Ära, die Invalidenversicherung für Arbeiter eingeführt wurde (heute Rentenversicherung genannt), begann die Rentenzahlung mit dem 70. Geburtstag. Die durchschnittliche Lebenserwartung eines fünfjährigen Jungen lag aber nur bei 58 Jahren. Nur eine kleine Minderheit hat deshalb jemals eine Rente erhalten. 1957, mehr als ein halbes Jahrhundert später, lag der Rentenbeginn regelmäßig beim 65. Geburtstag, während das durchschnittliche Sterbealter erwachsener Männer sich auf rund 66 Jahre erhöht hatte. Im Jahre 2005 lag das durchschnittliche Renteneintrittsalter nur noch knapp über dem 60. Lebensjahr, das durchschnittliche Sterbealter hatte sich aber auf fast 72 Jahre erhöht. Die Rentenbezugsdauer hat sich nicht nur für Männer gewaltig verlängert. Noch vor drei Jahrzehnten, zu meiner Regierungszeit, hatten wir eine durchschnittliche Rentenbezugsdauer von knapp zwölf Jahren, heute erreichen wir im Schnitt 17 Jahre – bei weiterhin steigender Tendenz. Die Ursachen für diese gewaltige Verschiebung liegen einerseits in den Fortschritten der Medizin, der Hygiene, der Pflege und der humaneren Arbeitsgestaltung, die ein längeres Leben ermöglichen; andererseits liegen sie in der mehrfachen gesetzlichen Absenkung des tatsächlichen Alters beim erstmaligen Bezug der Rente (Stichwort »Früh-Verrentung«).
Der Altersaufbau unseres Volkes gleicht schon lange nicht mehr einer Pyramide, viel eher neigt er zur Gestalt eines Kugelbaums. Die Zahl der Rentner nimmt stetig zu. Im Jahre 2005 waren 19 Prozent aller Einwohner 65 Jahre alt oder älter, im Jahr 2030 wird dieser Anteil wahrscheinlich auf 27 Prozent ansteigen. Gleichzeitig nimmt aber der Anteil der jüngeren Jahrgänge ab. Seit den sechziger Jahren erleben wir einen dramatischen Abfall der Geburtenrate. Damals ergab sich pro Frau eine Durchschnittsrate von 2,36 Geburten, im Jahr 2005 standen wir bei einer Geburtenrate von nur noch 1,36. Trotz der großen Zuwanderungen seit den sechziger Jahren haben wir es im Ergebnis mit einer zunehmenden Überalterung und zugleich mit einer zahlenmäßigen Schrumpfung der Bevölkerung zu tun. Auf Dauer können aber immer weniger junge Erwerbstätige nicht immer mehr Rentner finanzieren. In den letzten Jahrzehnten hat man die Abgaben- und Steuerlast der Jungen erheblich erhöht und zugleich die Rentenansprüche ein wenig eingeschränkt. Jedoch ist klar erkennbar, daß eine uneingeschränkte Fortsetzung der bisherigen Praxis nicht möglich sein wird.
Auf die beiden Auswege, die bisweilen in der öffentlichen Debatte angeboten werden, will ich hier nicht näher eingehen. Denn eine mit Hilfe steuerlicher und sozialpolitischer Anreize zu erzielende Anhebung der Geburtenrate auf das bestandserhaltende Maß von 2,1 erscheint mir utopisch, sie würde sich selbst im Falle eines Erfolges frühestens in der Mitte des 21. Jahrhunderts ausreichend auswirken. Der andere Ausweg, unser Geburtendefizit durch Einwanderung aus Afrika und Asien aufzufüllen, erscheint mir noch weniger realistisch. Denn schon bisher, beim Stand von rund sieben Millionen ausländischen Einwohnern – davon fast
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