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Außer sich: Roman (German Edition)

Außer sich: Roman (German Edition)

Titel: Außer sich: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Fricker
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Sehnen, massierte die Muskeln. Reflexhaft, planlos bewegte er Arme und Beine. Unbeabsichtigt, so schien es, drehte sich die im Gelenk geknickte Hand nach oben. Die Physiotherapeutin zeigte ihm, wie man die Bewegung koordiniert, wie man die Finger benutzt. Dinge anfasst, sie greift. Als hätte er Angst vor einem Stromschlag, berührte er alles nur kurz, flüchtig, ließ gleich wieder los. Nur den Löffel mochte er nach einiger Zeit länger halten. Bald konnte er sich damit Essen in den Mund schaufeln, fahrig, zittrig, man wusste nicht, wie, aber es ging. Er lernte sitzen ohne Stütze im Rücken. Erst fehlte ihm die Kraft, mit jedem Tag aber gelang es ein bisschen länger, ein bisschen stabiler. Dann kam das Aufstehen. Die Physiotherapeutin hielt ihn um Becken und Rücken, zog ihn langsam, vorsichtig auf die Beine. Er klammerte sich an ihr fest. Er schnaufte wie eine Dampflokomotive. Die Beine waren lange, krumme Stangen. Fremde, steife Dinger, die immer wieder wegrutschten. Erst nach vielem Probieren erinnerte sich sein Körper, wie man stehend das Gleichgewicht hält. Er lernte, die Beine nach vorne zu führen. Be-lasten, anderes Bein nachziehen, ent-lasten. Schritte zu machen. Kurze, eckige Trittchen gelangen. Mehr Tritte mit mehr Schwung. Die Spastik machte den Bewegungsablauf kompliziert und anfällig für Störungen. Aber er schaffte es. Er schaffte es!
    Über Stock und Stein. Hüpfen auf einem Bein. Kein Hang zu steil, kein Boden zu schlammig. Komm, gib mir die Hand. Die Füße falsch beschuht. Feine englische Halbschuhe statt Wanderschuhe. Schuttberg, Geröllhalde, der Hügel im Park. Deine Füße berühren geschickt und sicher den Boden. Abstieg. Steinen ausweichen, die vom letzten Regen auf den Weg gespült worden sind. Kaum Profil in der Sohle. Wer rechnet schon mit solchen Verhältnissen in einer Weltstadt. Rutschen, den Oberkörper etwas zurücknehmen, Gleichgewicht halten. Gelenke, Muskeln, Sehnen, Bänder in mühelosem Zusammenspiel, ganz von selbst halten sie den Körper stabil in der Bewegung. Die Arme sorgen für Balance, während er abwärtsgeht, rutscht, schlittert, über Kanten springt. Seit einiger Zeit trägt er den speckigen Ledermantel nicht mehr. Er trägt jetzt oft eine Burberryjacke. Auch sie ist schon ziemlich speckig. Seine Beine wirken lang in der schmal geschnittenen Jeans. Ich gehe hinter ihm. Sein Gang ist aufrecht, gerade der Rücken. Auf einmal beginnt er übermütig wie ein Bub zu hüpfen. Ein paar Leute führen Hunde aus, blicken uns verwundert nach. Er dreht sich um. Sieht mich herausfordernd an. Komm, sagt er, lass uns ein Wettrennen machen! Ach nee. Er steht schon in den Startlöchern. Springt auf und ab, biegsam, fedrig, wie ein Sprinter, wie um sich vor dem Start warm zu machen. Drei, zwei, eins, rennt los, ohne auf mich zu warten. Lauflust. Kraftvolle weite Sprünge, beschleunigt, die Arme vor, rechts, links, geben Schwung. Einmal volle Kanne, so schnell es geht. Für zwanzig Meter oder dreißig. Beim Café bremst er ab. Er kommt zurück, zu mir zurück, schwer atmend, pumpend, locker schlaksig jetzt. Übers ganze Gesicht strahlend. Zieht sich die Jacke aus, fächelt mit dem Pullover dem Bauch Luft zu. Auch ich muss lachen. Vornübergebeugt, die Hände auf die Knie gestützt, verschnauft er. Wartet, bis die Sauerstoffschuld in den Muskeln ausgeglichen ist. Vorne, beim Café, beginnt jemand die Stühle aufeinanderzustapeln. Mit einer langen Kette werden sie für die Nacht gesichert. Wir gehen nach Hause.
    Wir übten. Durch Üben werden Synapsen stimuliert. Neue Verbindungen bilden sich. Das ist wissenschaftlich erwiesen, bewiesen. Das ist so. Wir übten Gehen. Tagtäglich. Untergehakt, von Wand zu Wand, Flur rauf, Flur runter. Hinsetzen. Ausruhen. Weiter. Am einen Ende ein Fenster, am anderen Ende das Treppenhaus, ein Rand, ein Abgrund, unüberwindlich. Bastian, komm, umdrehen, andere Richtung. Es gab nur zwei Richtungen, rauf und runter. Als ob es beim Gehen helfe, brummte er bei jedem Schritt.
    Brummen, Weinen und Lachen. Untröstliches Weinen, übertriebenes Gekicher, nein, Gelächter. Es klang nicht lustig. Es klang schaurig und irr. Als erbreche er statt Nahrung Salven halb verdauter Töne, stinkend und schleimig.
    Nach und nach aber kamen neue Äußerungen hinzu. Mit kaum noch menschlicher Stimme knurrte, winselte, jaulte er. Als probiere er aus, zu welchen Verrenkungen Stimmbänder imstande sind, begann er kleine kuriose Laute zu fabrizieren, gefiederte, gesäuselte

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