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Außer sich: Roman (German Edition)

Außer sich: Roman (German Edition)

Titel: Außer sich: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Fricker
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an. Ab und zu knackte es im Wäldchen. Jemand kam mir entgegen. Man konnte nichts Genaues sehen, nur Schemen, dichtere Dunkelheit und lichtere Dunkelheit. Und dort, weit vorne, die Ampel. Ein grelles rotes Licht. Ich hörte den Wind in den Wipfeln der Bäume. Ich hörte ihn klagen und jammern, ächzen und knarren. Jetzt sah ich den Hundeschatten, der an eine Bank pinkelte. Ntach, sagte der Menschenschatten, der dahinter ging. Wenn schon. Die Fußgängerampel wechselte von Rot auf Grün. Von Grün auf Rot. Ich brauchte ein eigenes Leben. Ich brauchte jemanden, der mich in den Arm nahm. Aber ich wollte mich von niemand anderem in den Arm nehmen lassen. Kurz bevor ich zur Straße kam, schaltete sich die Ampel aus. Ich schloss die Augen. Ging über die Straße. Kein Auto kam. Das muss doch ein Ende haben mal, ich muss doch wissen, was fehlt. Ach, Irma, du würdest gar nicht wissen wollen, wie viel es ist, das fehlt. Lang war der Bahnsteig. Neonröhrenlicht. Jenseits der Gleise Wald. Kein Kiosk, kein Bistro. Ich setzte mich auf die Gitterbank. In fünf Minuten würde ich ein Muster am Hintern haben. Extra unbequem. Damit niemand zu lange sitzen bleibt. Damit niemand sich hier für die Nacht zur Ruhe legt. Die Stellfahrpläne waren graffitiverschmiert, zerkratzt. Ich hatte Lust auf einen Kaffee. Ich suchte in den Taschen nach Zigaretten. Keine mehr da. Ob Sebastian, wenn er schlief, träumte? Konnte er noch träumen? Öffneten sich im Traum womöglich Fenster in die Vergangenheit? Wer konnte das wissen? Ob er nicht da, wo Fenster sein sollten, nur schwarze Löcher sah. Fratzen. Zuckende Blitze. Bilder, die ihm Angst machten. Oder gar keine Bilder, nur Flimmern, weißes Flimmern. Rauschen. Störung. Empfand er Angst? Oder Ruhe, Geborgenheit? Ein leises, metallisches Vibrieren, ein Sirren im Gleisbett. Singende Gleise, die Bahn. Schon sah ich in der Ferne die Lichter näher kommen. Ich stand auf.
    Rufus kam nicht wie gewohnt, mich zu begrüßen, als ich die Tür öffnete. Rufus? Katerchen? Es stank. Das Katzenklo wieder zu lange nicht geleert. Ob er bei der Nachbarin war?
    Ich machte das Licht an. Rufus lag auf dem Sofa.
    Ich ging zu ihm. Er lag in einer Pfütze aus Urin und Kot. Mühsam hob er den Kopf. Seine Augen waren verschattet. Das dritte Augenlid hing zur Hälfte über den Pupillen. Der Fang stand offen, die Zunge war sehr blass. Er hechelte. Rufus, was machst du denn für Sachen? Ich wollte ihn hochheben. Ich wollte ihn sauber machen. Da fauchte er und schlug nach mir. Ich ließ ihn. Aus der Küche holte ich Futter und ein Schälchen Wasser. Er hatte wieder nichts angerührt. Vorsichtig schob ich ihm einen winzigen Brocken zwischen die Zähne. Versuchte, ihm etwas Wasser ins Maul zu träufeln. Aber er fauchte, wehrte sich, knurrte. Ich nahm das Telefon und wählte die Nummer des Tierarztes. Er habe schon Feierabend, sagte er, ich solle doch morgen in die Praxis kommen. Das ist zu spät, sagte ich, das ist ein Notfall, ich kann ihn nicht mehr in den Korb packen, ich kann ihn nicht einmal mehr anfassen. Bitte. Ich hörte jemanden flüstern, leise gedrehte Musik, Rauschen, er war wohl im Auto unterwegs. Ich sah auf die Uhr. Es war neun Uhr durch. Entschuldigung, sagte ich. Ich … Schon gut, er komme noch vorbei. In etwa einer Stunde.
    Ich blieb neben Rufus sitzen. Sobald ich mit der Hand in seine Nähe kam, fauchte er. Als sei sein ganzer Körper eine offene Wunde. Ich hätte ihn gerne gestreichelt. Eine Stunde also blieb uns noch. Zeit, Abschied zu nehmen von diesem Tier? War es so weit? Letzter Freundschaftsdienst. Mir fiel dieses Lied ein:
Was ich noch zu sagen hätte
… Was hatte ich ihm noch zu sagen? Dass es schön gewesen war mit ihm. Dass er uns fehlen würde. Dass er bald in den ewigen Jagdgründen sein würde. Über Felder streifen. Auf Bäume klettern. Keine Schmerzen mehr. Auf jeden Fall keine Schmerzen mehr. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, so lange gewartet zu haben. Er hatte leiden müssen. Für nichts oder für ein paar Wochen, Monate länger leben.
    Unnötig leiden.
    Nötig leiden wäre: Hoffnung auf Besserung.
    Leiden als vorübergehender Zustand.
    Der Tierarzt kam gegen elf. Er sagte, er könne ihm noch eine Infusion geben, um den Elektrolythaushalt wieder in Ordnung zu bringen. Man könne ihn auch in der Klinik nochmals durchchecken, um herauszufinden, woher der Durchfall käme, Hoffnung auf Besserung aber bestehe nicht. Er würde mir empfehlen, ihn zu erlösen, schon wegen der Kosten.
    Schon

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