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Außer sich: Roman (German Edition)

Außer sich: Roman (German Edition)

Titel: Außer sich: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Fricker
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gefunden zu haben, nach einer langen Gefangenschaft. Der Bart dicht gewachsen, das Haar verfilzt. Darunter aber Sebastian, mein Mann. Ich bin wieder da! Das feine Beben der Nasenflügel. Sein offensiver, aber doch behutsamer Blick. Ich hielte diesen Blick nicht aus, sähe zu Boden. Nein, würde ich sagen, ich kenne dich nicht, du bist ein Fremder, geh, bitte, das hier ist nicht dein Zuhause. Der andere, neue Sebastian hätte die Erinnerung an diesen hier längst überschrieben; den Klang seiner Stimme, seinen Geruch, die Berührung seiner Finger auf meiner Haut. Er würde mich ansehen und nicht glauben können, dass ich ihn vergessen hatte. Dort ist die Tür, würde ich sagen, gehen Sie, bitte. Er würde gehen, ich ließe ihm keine Wahl. Ich würde warten, bis seine Schritte verklungen wären, sachte die Tür zu Sebastians Zimmer öffnen und auf die rasselnden Atemzüge horchen. Ich würde den so vertrauten Geruch, diese Mischung aus menschlichen Ausscheidungen und Putzmitteln, riechen und wissen, dass alles in Ordnung ist.
    Lass uns zurückgehen. Um achtzehn Uhr gab es Abendessen. Wir waren etwas zu spät und gingen direkt in den Speisesaal. Ich zog ihm die Jacke aus und schob den Rollstuhl an den Tisch. Guten Appetit, wünschte ich in die Runde und setzte mich neben Sebastian. Die Luft im Saal roch immer gleich, das Essen roch immer gleich. Mitten auf dem Tisch stand ein Strohblumensträußchen. Der Speisesaal lag im Erdgeschoss, direkt vor den Fenstern wuchsen Kiefern, kerbige Vertikalen, dahinter verlor sich das Licht in der Tiefe des Waldes. Irma war nicht da. Ich schnitt alles in kleine Stückchen, gab Sebastian den Löffel in die Hand. Die Sonnenblumen müssen in den Boden, sagte da Herr Jung, Sebastians Tischgenosse. Ein älterer Mann, ein Bauer, auf den zu Hause zweihundert Hektar Ackerland warteten. Seit drei Monaten war er hier, er konnte schon beinahe wieder laufen, und Traktorfahren sei sowieso gar kein Problem, sagte er. Er verstehe nicht, warum man ihn nicht endlich nach Hause lasse. Beim Sprechen machte er nur selten noch längere Pausen, weil er sich ein Wort so lange zurechtlegen musste, bis es durch den Mund passte. Er war der Einzige, der allein mit seinem Rollstuhl die Klinik verließ, mit den Fußspitzen trippelnd, den Boden unter sich wegziehend, schiebend bis zur Parkplatzeinfahrt. Dort lag an der Seite ein großer Stein. Der Stein war sein erstes Ziel. Die andere Straßenseite, das Ufer des Sees. Seine Frau kam selten, sie hatte zu Hause den Betrieb am Laufen zu halten.
    Nach dem Essen brachte ich Sebastian hoch in sein Zimmer, setzte ihn in den Sessel am Fenster. Er sah nicht, dass es draußen schon fast dunkel war. Er bemerkte nicht, dass ich ging. Sie würden ihn später zu Bett bringen.
    Irmas Tür stand halb offen. Ich hörte Gemurmel. Ich blieb stehen. Angezogen von der weichen, freundlichen Melodie ihrer Stimme, schob ich die Tür ganz auf und sah Irma im Halbdunkel am Tisch sitzen, vertieft in ihre Stickerei. Irma, sagte ich, sehen Sie überhaupt noch etwas? Sie antwortete nicht, stickte weiter. Soll ich das Licht anmachen? Jetzt blickte sie auf, lächelte und sagte, keine Sorge, meine Hände haben Nachtaugen. Man sagte, Irma sei vom Fahrrad gefallen, einfach so. Darf ich? Ich trat in ihr Zimmer. Ich knipste die Stehlampe an. Irma blinzelte ein bisschen und streckte mir ihre Stickarbeit entgegen. Ich setzte mich an den Tisch. Es war ein Kissenbezug. Es sah aus, als seien es komplizierte Stickereien, die sie machte. Von Nahem aber liefen die Fäden kreuz und quer, manche waren abgeschnitten, manche mehrmals verknotet. Das ist die Aussteuer, sagte sie, ich muss bis gestern fertig sein damit. Wunderschön, sagte ich. Sie nickte befriedigt. Ich weiß, sagte sie, dass ich die Berge mag. Aber ich weiß nicht mehr, warum überhaupt. Waren Sie denn schon mal in den Bergen? Ich glaube, sagte sie, es ist schön da. Ich sage halt einfach, ich bin gern da gewesen. Sie begann, wieder zu sticken. Man sagte, Irma habe alles vergessen und vergesse fortlaufend alles. Das Einzige, was sie noch wisse, sei, dass sie alles vergessen habe und ständig alles vergesse.
    Bist du neu hier, fragte sie. Ich nickte. Denkst du, ich bin verrückt? Wer so stickt, kann nicht verrückt sein, Irma. Das muss doch ein Ende haben mal, sagte sie und sah mich an, ich muss doch wissen, was fehlt!
    Bis der Zug fuhr, war noch Zeit. Langsam ging ich zurück zum Bahnhof. Unter den Füßen fühlte sich der Boden weich und federnd

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