Außer sich: Roman (German Edition)
Katers. Manchmal hilft es, sagte er, gleich ein neues Tier zu nehmen. Ich zog meine Hand zurück. Ohne mich noch einmal umzudrehen, ging ich die Treppe hinunter. Auf meinem Rücken fühlte ich den Blick des Tierarztes. Um meinen Körper fühlte ich seine Arme. Ich trat auf die Straße. Was hatte ich erwartet? Ich hätte zurückgehen und ihn an die Verheißungen seiner Stimme erinnern können. Aus dem Wunsch, dem Bedürfnis heraus, einmal wieder einen gesunden menschlichen Körper zu spüren. Ich würde die Augen nicht schließen. Ich würde die Augen nicht schließen, um nicht zu vergessen, dass dies jemand anderes war. Im Nacken die Angst, vom Leben abzufallen, vom Leben zurechtgehackt zu werden, bis gar nichts mehr übrig ist. Sommer und Winter spüren, diese Kälte, diese Hitze, diese Gerüche, diese Natur, die ihre Muskeln spielen lässt, bevor im Herbst die Blätter wieder fallen werden. Im Herbst. Die Pappeln, die Pappelblätter, die klapperten im Wind.
In dem Jahr, als Mutter für kurze Zeit einen neuen Mann ausprobierte. Als keiner mehr sprach mit dem anderen. Die letzten warmen Tage vorbeigingen, noch einmal alle Fenster offen. Vor dem Haus standen drei Pappeln.
Mutter hatte sich in einen löwenmähnigen Guru verliebt. Sie hatte einen seiner Kurse besucht, und am letzten Abend hätten sie beide gespürt, dass sie füreinander geschaffen seien. Sie glaubte, der Guru sei besser als Vater. In vielerlei Hinsicht: Er nimmt mich wahr, er sieht mich, er hört mir zu, im Gegensatz zu dir. Ich hätte das alles nicht hören dürfen. Aber die Luft in meinem Zimmer war dumpf und stickig, ich konnte nicht einschlafen. Ich war aufgestanden, um Mutter zu suchen. Warum erzählst du mir das, fragte Vater. Sie hätte Vater das nicht erzählen müssen, aber sie wollte es ihm erzählen. Sie hatte offenbar einen aussichtslosen Kampf gegen seine Arbeit aufgenommen. Gegen Noten und Töne. Etwas anderes interessiert dich doch gar nicht, sagte sie, ich kann so nicht leben! Musik ist keine Arbeit, sagte Vater leise. Er schrie nicht, er drohte nicht. Er ging am nächsten Tag einfach weiter zum Unterricht und verkroch sich sonst in seinem Studierzimmer, kam nicht zum Essen und schlief auf dem Sofa. Ab und zu hörte man ihn auf dem Klavier eine Melodie ausprobieren. Nur abends, vor dem Zubettgehen, setzte er sich weiterhin zu mir ans Bett und wir sangen gemeinsam unser Schlaflied.
Mutter weinte oft, dabei hätte Vater, dachte ich, weit mehr Grund gehabt zu weinen. Der Löwenmähnige traute sich sogar in unser Haus. Einmal, als er mir übers Haar strich, meine Wange tätschelte, biss ich ihm in die Hand. Nicht mal da konnte er aufhören zu lächeln. Für Leute, die barfuß über glühende Kohlen gehen, ist so ein Kinderbiss wahrscheinlich gar nicht zu spüren. Dennoch wurde er ganz bleich (aber er lächelte), er sah aus wie ein grinsendes Gespenst. Ich hasste ihn, ich hätte ihn umbringen können. Ich glaube, nach dem Biss hasste er mich auch. Er sagte aber, er könne das verstehen. Schließlich sei ich ja noch ein Kind und müsse mich erst an einen neuen Vater gewöhnen. Danach wollte ich ihn vergiften, mit einem pflanzlichen Schlafmittel, das ich aus dem Müll gefischt hatte.
Irgendwann war es vorbei.
Nicht weil sich Mutter für uns entschieden hätte. Wir sahen den Guru mit einer anderen mitten auf unserer Einkaufsstraße. Mutter ließ sich nichts anmerken. Es war Herbst, schweigend gingen wir nach Hause. Krähen saßen in den Pappeln vor unserem Haus, die Blätter klapperten im Wind. Mutter ging zu Vater ins Zimmer. Lange blieb sie dort. Danach war fast alles wie vorher.
Ich trat etwas zurück und sah hoch zu den Fenstern der Praxis. Sie lag im zweiten Stock. Licht brannte. Es kann doch nicht wahr sein, dass ich gar kein neues Tier will. So ein kleines Kätzchen, sonst von niemandem gebraucht, das hätte ersäuft werden sollen oder erschlagen, das jemand gerettet hat, bevor all seine Leben in einem einzigen Moment erloschen wären. Dem ich eine neue Heimat geben könnte, ein Zuhause. Das mich ablenken würde und trösten. Das warme Fell. Das frische Leben. Ich will weder ein neues Tier noch einen neuen Mann. Stell dich nicht so an, höre ich Mutter sagen, du musst nicht so tun, als seiest du eine besonders treue Seele. Ich sei wie ein Schmetterling, hatte Mutter einmal gesagt, von Blüte zu Blüte, ich müsse aufpassen, so ein Schmetterling tanze nur einen Sommer lang. Bis sie sich gewundert hat, dass ich Sommer um Sommer mit
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