Außer sich: Roman (German Edition)
gehindert. Es war ein etwa zehn Meter hohes Foyer, komplett weiß. Selbst der Boden war mit weißem Marmor ausgelegt. Vier Aufzugstüren aus matt gebürstetem Edelstahl bildeten den einzigen Kontrast. Du stelltest deine Frage neu: Möchtest du nicht auch Kinder, irgendwann? Ich beobachtete die Leuchtziffern über den Aufzugstüren. 38, 37, 36. Countdown. Als der Lift nach ein paar Sekunden unten ankam, die Türen sich öffneten und keiner ausstieg, schüttelte ich den Kopf. Du hast nicht weiter nachgefragt.
Er hob den Kopf. Es begann leise. Es begann wie ein Glucksen, ein Glücksglucksen, tief in der Kehle.
Ja, da lachst du.
Ein Gurgeln. Ein Kichern.
Sein Lachen steckte mich an. Jetzt, dachte ich, jetzt hat es geklappt, wir können wieder zusammen lachen. Meine Bilder sind bei ihm angekommen, er freut sich, dass Bruchstücke endlich wieder ein Ganzes ergeben. So schnell und unerwartet kann sich das Blatt wenden. Die Freude noch etwas unbeholfen, etwas zu heftig. Aber immerhin. Immerhin. Bastian! Du freust dich.
Er fletschte die Zähne. Der Mund wuchs in die Breite. Das unschuldig fröhliche Lachen wandelte sich. Es schillerte, es flackerte, zuckte und schoss ihm zum Mund heraus wie eine schweflig stinkende Lohe. Hohngelächter. Dreckiges, besoffenes Gegröle. Grob, ordinär, widerwärtig.
Schütteln, schlagen, den Mund zuhalten. Aufhören, aufhören! Hör auf damit!
Jaja, ich weiß. Ich weiß. Keine Gefühle, nur ein Zwang. Einer dieser Zwänge. Immer wieder falle ich darauf herein.
Selbst schuld.
Niemand sonst war unterwegs. Ein Entenpaar floh aus dem Schilf.
Ich presste mir die Hände auf die Ohren. Ich drehte mich weg. Nichts konnte man tun. Nichts, nur warten.
Bis es vorbei war.
Dann war es vorbei.
Er hing wieder vornüber im Rollstuhl. Hektisch klaubte er die Perlen seiner Kette. Als bitte er unermüdlich einen allzu fernen Gott, ihn doch nicht ganz zu vergessen.
Was ist das für eine Scheiße! Wenn das nicht besser wird, vielleicht nie mehr besser wird. Er hört dich, rede mit ihm, spiele ihm Musik vor und streichle ihn. Alles Verarsche! Weil niemand zugeben will, dass mit so einem Gehirn auch einfach Feierabend sein kann.
Ich musste ihn nicht mehr besuchen. Man könnte ihn in einen Raum sperren, füttern, putzen, von einer Seite zur anderen drehen. Es würde ihm nichts fehlen. Er würde brummen, seine Augen würden weiterhin leer in einem Winkel hängen, gelegentlich würde er in ein Zwangslachen ausbrechen oder in ein Zwangsweinen. Es hätte nichts mit Gefühlen zu tun. Nur mit Biochemie.
Ich tupfte ihm den Geifer vom Kinn, trocknete seine Hände.
Oder: Je mehr Zeit vergeht, desto mehr gewöhnt man sich an die Windeln. Ich würde mir nicht mehr vorstellen können, wie ein erwachsener Mensch auch ohne Windeln existieren kann. Man gewöhnt sich an das Brummen, das Kreischen und Jammern. Vorsprache, Urlaute. Damit sagt er alles, was er noch zu sagen hat. Irgendwann würde ich den Reichtum einer aparten Sprache in diesen rudimentären Äußerungen entdecken. Man kann ja nicht anders, man hört nicht auf, Menschliches zu suchen. War das der Trick? Die Zeit alle Wunden heilen lassen? Man würde nicht mehr nach dem Sinn fragen. Nach Grund und Ordnung eines solchen Lebens. Nach Schnittpunkten mit einer menschlichen Würde.
Vielleicht aber würde die Suche nach einem tieferen Sinn zum Inhalt meines Lebens werden. Täglich reich beschenkt mit wahren Werten würde ich endlich sagen können, Sebastians Krankheit sei ein großes Glück; sie habe nicht nur aus ihm, nein, auch aus mir einen anderen Menschen gemacht. Einen besseren Menschen. Demut, Gelassenheit, Geduld. Die emotionalen Verwerfungen würden zu moralischen Überlegenheiten werden. Heldenhafte Selbstverweigerung, innerlich unabhängig von den Zumutungen der Turbogesellschaft. Von Schöner, Höher, Weiter.
Ich würde nicht nur akzeptieren, was geschehen ist, sondern dafür von Herzen dankbar sein.
Und eines Nachts würde sich der Schlüssel im Schloss drehen, Schritte im Flur, das Knarren der Dielen. Das leise Klirren des Schlüsselbunds in der Messingschale. Ich, selbst im Halbschlaf, wüsste genau, wer da kommt. Weil niemand so wie Sebastian die Schlüssel in die Schale legt. Vorsichtig, die einzelnen Schlüssel noch zusammenhaltend, bis er auf dem Grund der Schale Widerstand spürt. Auf, ins Wohnzimmer, im Dunkeln nach dem Lichtschalter tastend. Vor mir stünde Sebastian, von einer längeren Reise zurück, müde und froh, nach Hause
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