Außer sich: Roman (German Edition)
Sebastian tanzte.
Mutter, ausgerechnet du.
Wie sehr ich mich immer nach dem Alleinsein gesehnt hatte, wenn ich nicht allein war. Vor der Zeit mit Sebastian. Sobald die Verliebtheit vergangen und neben mir plötzlich ein ganz normaler Mann im Bett lag. Ich anfing, mit seinen Gewohnheiten zu hadern. Was bei Sebastian eigentlich so anders gewesen war? Ich weiß es nicht genau. Immer hatte der Wunsch, mit ihm zusammensein zu wollen, bei Weitem überwogen. Ihm unbedingt erzählen zu wollen, was mir während des Tages passiert war, was ich erlebt hatte. Manchmal dachte ich, ich erlebe Dinge nur, um sie nachher Sebastian zu erzählen. Auch nach all den Jahren noch gespannt auf seine Gedanken und Gespinste. Neugierig darauf, was er sah, wie er was sah. Staunend, wie präsent er war, wie aufmerksam. Noch vieles könnte ich aufzählen, es erklärt im Grunde nichts.
Vater hingegen hat sich aus solchen Angelegenheiten rausgehalten. Vater wurde schnell immer älter. Als er pensioniert war und sich endlich seinen eigenen Kompositionen ungestört hätte widmen können, hörte sein Herz eines Nachts auf zu schlagen. Einfach so.
Es begann zu regnen. Leicht nur. Genauso gut hätte es trocken bleiben können. Ich suchte in der Tasche nach Zigaretten. Wohin sollte ich gehen? Wer kann eigentlich von sich behaupten, er gehe nach Hause? Ich jedenfalls nicht.
Ich klopfte bei der Nachbarin. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie öffnete. Sie trug einen Morgenmantel. Bevor ich etwas sagen konnte, sagte sie, nein, bei ihr sei Rufus nicht. Sie habe ihn überhaupt schon länger nicht mehr gesehen. Neben der Tür, wo sonst immer nur ein Paar Schuhe gestanden hatte, stand heute ein zweites Paar, Pumps. Kein Problem, sagte sie, als sie meinen Blick bemerkte, Sie stören nicht. Sie lächelte.
Rufus wird nicht mehr kommen, sagte ich, ich musste ihn einschläfern lassen. Ich wollte nur kurz Bescheid sagen. Und danke für die Hilfe. Sie nickte nur, sie hatte anderes im Kopf.
Als ich in die Wohnung trat, erwartete ich den Kater. Dass er käme und unverschämt ungeduldig maunzte und mir um die Beine strich. Aber er kam nicht. Auch sonst kam niemand.
Irgendwann war vom Flur her unterdrücktes Lachen zu hören, Tuscheln, erneutes Lachen, das in ein Kichern überging. Durch den Spion sah ich erst nur die Nachbarin, immer noch im Morgenmantel. Mit leuchtenden Augen hörte sie einem Flüstern zu, lachte wieder, hielt sich dabei die Hand vor den Mund. Hinterkopf und Rücken einer anderen Frau kamen ins Bild. Sie hatte einen Dutt, sie war elegant angezogen. Sie umarmten sich. Das Gesicht meiner Nachbarin war einen Moment lang ganz nah. Sie schien direkt in den Spion zu blicken. Ich zuckte zurück. Das Flurlicht ging aus und wurde nicht wieder angemacht. Ich hörte das Klackern der hohen Absätze, die Hausschuhe der Nachbarin machten kein Geräusch. Man hörte den Lift kommen, die Tür aufgehen, zugehen, die Kabine in die Tiefe fahren. Die Nachbarin ging zurück in ihre Wohnung.
In der Nacht konnte ich nicht schlafen.
In manchen Nächten stand ich auf, ging rastlos in der Wohnung umher, ordnete Dinge neu, Bücher, Geschirr. Ich ordnete nach einem System, das mir nachts plausibel, ja als beinahe zwingend erschien, während sich die neue Ordnung im Licht des Tages als komplett unsinnig erwies. Alphabetisch Geschirr und Besteck, nach Größe oder Farbe die Bücher. Manchmal lag ich bis zum Morgen wach und dachte an Aufgaben, die noch in Angriff zu nehmen wären. Entscheidungen, die gefällt werden mussten. Immer hoffte ich, die gefällten Entscheidungen würden auf die richtige Seite krachen. Niemanden erschlagen.
In dieser Nacht stand ich auf und trat hinaus auf den Balkon. Versuchte, alle Gedanken zu verscheuchen. Beobachtete das Verblassen der Sterne kurz vor Sonnenaufgang. Hörte das Erwachen der Vögel. Überlegte, warum das Autoradio so plötzlich den Geist aufgegeben hatte. Es war ja noch ziemlich neu, nun, fünf Jahre etwa. Aber zu alt für jede Garantie. Alle Lämpchen gingen noch, Sender wurden gesucht und angezeigt, aber aus den Lautsprechern kam nur ein monotones Rauschen. Keine Werkstatt hatte bisher den Fehler gefunden. Bastian, kannst du das bitte endlich reparieren, bitte!
Die Sonne stand jetzt über der Kirche. Noch lauerten die Knospen der Kastanien geschlossen, braun und klebrig auf wärmeres Wetter, auf längere Tage. Punkt sieben ging der Presslufthammer los. Vorne an der Stargarder rissen sie (zum wievielten Mal?) die Straße auf.
Weitere Kostenlose Bücher