Außer sich: Roman (German Edition)
still. Einzig das Läuten, bevor die Türen der Bahn schlossen, das Rattern des wegfahrenden Zuges. Das Einkaufscenter war weiträumig abgesperrt. Gaffer standen herum. Ich sah weder Rauch noch Feuer. Was ist los? Alles unter Kontrolle, sagte ein Feuerwehrmann. Gehen Sie bitte weiter, gehen Sie nach Hause! Jemand drückte mir ein Flugblatt in die Hand. »Dem Kapitalismus gehen die Lampen aus!!!« stand darauf. Jemand lachte schallend. Haha! Die flackernden Lichter begleiteten mich. Sie füllten den ganzen Straßenraum, sie bleckten mich noch in der Wohnung an, erregt, nervös.
Ich hatte den Gedanken ans Nachher vor mir her geschoben. Jetzt blieb mir nichts anderes übrig, als darüber nachzudenken. Ich war abhängig von Hilfe, von Beurteilungen und Einschätzungen anderer. Von Pflegestufen und Leistungserbringern. Betrachtete man das Ganze einmal realistisch, würde ich Sebastian gar nicht alleine pflegen können. Jemand würde immer bei ihm sein müssen. Er konnte sich nicht selbst anziehen, sich nicht selbst die Windeln wechseln, nicht selbst essen. Nichts konnte er mehr. Ich würde arbeiten müssen, um mir, uns, den Lebensunterhalt zu verdienen. Auch wenn ich mich opferte (aufopferte), würde es nicht reichen. Es würde nicht genug sein. Ich überlegte, wen ich zur Hilfe verpflichten könnte. Mutter? Sonst niemand? Sonst niemand. Eine Pflegekraft für die Zeiten, wenn ich weg wäre. Jemand, der täglich in die Wohnung käme und auf Sebastian aufpassen würde. Eine Polin oder Tschechin würde legal mehr kosten, als sich unsereins leisten kann. Ein bisschen weniger legal noch immer zu viel. Total illegal wäre vielleicht machbar. Die Pflegekasse würde nur einen Bruchteil der tatsächlichen Kosten bezahlen, dazu Sachleistungen. Eine total illegale Polin würde viel arbeiten und wenig verdienen. Die Währung, für die Sebastian zu Hause gepflegt werden könnte, hieße Ausbeutung.
Was würde Sebastian wollen?
Von Wollen konnte gar keine Rede sein.
Von Wollen war schon lange keine Rede mehr.
Ein knappes Dreivierteljahr, bevor es passiert war, hatte ich den Bau eines Alten- und Pflegeheims abgeschlossen. Ein weißer Kubus, draußen vor der Stadt. Von überall her gut zu sehen. Ein Klötzchen am Fuß der Metropole. Ein Altersheim, dachte ich, muss nicht unerträglich sein. Ein Ort, an dem Menschen, die im Laufe der Jahre Familie und Freunde verloren haben, nicht mehr allein sind. Zusammen lachen, zusammen Karten spielen, zusammen fernsehen. Eine Art Wohngemeinschaft. Weiche Formen, warme Farben. Backstein und mit viel Glas das Licht einfangen. Keine Krankenhausflure, hatte Sebastian gesagt: Du musst diese langen, kalten Flure vermeiden, in denen man sich verläuft und nie mehr nach Hause findet. Wenn alle Wände, alle Treppen und Türen gleich aussehen.
Ich blieb hängen an Details, an einer Treppe, an der Gestaltung des Eingangsbereichs. Sebastian sah mir über die Schulter, schüttelte den Kopf und fragte, was mit den Zimmern sei. Die Bewohnerzimmer, fand er, sollten an der Außenfassade liegen, für mehr Privatsphäre. Sie müssen sicher sein können, sagte er, dass sie Entscheidungen immer noch selbst treffen.
Das
ist wichtig. Wenn andere dir helfen müssen, dich an- und auszuziehen, weil alle Gelenke steif geworden sind, glauben sie automatisch, du brauchst auch beim Denken Hilfe. Beim Für und Wider. Beim Hoffen und Bangen. Weniger werden von Tag zu Tag. Jede Kontrolle verlieren. Von Kopf bis Fuß gewaschen werden müssen von Fremden, die sich ekeln vor deinem Geruch, vor deinen Ausscheidungen. Oder sich längst nicht mehr ekeln, weil du für sie zu einem Beruf geworden bist. Ein Leben lang haben sie stolz auf Diskretion geachtet, auf Sauberkeit und Haltung. Und am Ende liegen sie entblößt vor achtzehnjährigen Zivildienstleistenden auf kotverschmierten Laken. Wenn sie die Wahl hätten, würden sie das nicht erleben wollen. Niemand würde das erleben wollen.
Die Baustelle des Altersheims lag am Ende einer verkehrsberuhigten Wohnstraße in einer Zone, die eigentlich als Gewerbegebiet ausgewiesen war. Vorne, an der Abzweigung, ein Aldi, ein Stück weiter Lidl. Dahinter eine Zeile Mehrfamilienhäuser, mehrere Autowerkstätten, linker Hand ein kleines Umspannwerk. Wir holperten über Schienen, die Straße endete an einem Feld, an der Baustelle. Wir stiegen aus. Stromleitungen durchschnitten den Blick. Es sirrte. Krähen und ein paar kleinere Vögel hockten auf den Drähten. Drei dünne Bäumchen wuchsen am
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