Außer sich: Roman (German Edition)
man allein wohl kaum aushält. Oder gerade allein? Ich weiß es nicht. Es ist ein Land, das man nicht zu Fuß durchqueren kann. Aus Versehen verdorren. Ausgebleichte Knochen am Wegrand. Beim Zeltplatz gab es Wasserleitungen. Was wünschst du dir?, fragte ich Sebastian, als wir nachts am Feuer hockten. Keine Ahnung, sagte er. Pause. Doch, ich wünsche mir Träume, die nicht in Erfüllung gehen. Nie aufhören zu träumen. Wenn das so ist, sagte ich, wünsche ich mir Träume, die in Erfüllung gehen. Wir lachten. Ab und zu musste einer von uns aufstehen und den Platz wechseln, weil der Rauch zu dicht wurde. Je tiefer die Nacht, desto lauter und unheimlicher klangen die Geräusche. Ich versuchte dagegen anzureden. Sebastians Antworten wurden immer einsilbiger.
Pfiffe. Rascheln hinter mir. Weiter weg ein Heulen, Wölfe? Unter mir schien sich der Boden zu verschieben. Ich sah einen Schatten, hörte ein Kratzen, ein Schaben. Ich war müde, hielt aber die Augen mit aller Kraft offen. Meine Ohren waren zu klein, um alles zu hören, was sie rechtzeitig hören müssten. Das Feuer war beinahe heruntergebrannt. Ich nahm ein Grollen wahr. Das konnte nur eines bedeuten: stürzende Felsen, Felsbrocken, Felswände. Und wir darunter begraben. Es war nur ein Flugzeug, das in großer Höhe über uns hinwegzog. Ich dachte an den Scherz des Busfahrers heute früh. Tagelang durch den Wilden Westen gefahren, mit eigenen Augen die Namen der Städte gelesen, Houston, San Antonio, El Paso. Wider Erwarten an der Ostküste angekommen. Ich stand auf, um Brennbares zu suchen. Trockenes Gesträuch, Wurzeln. Das Feuer qualmte. Ich wollte wach bleiben, bis der Morgen kam. Bis der Himmel licht wurde. Erst hellblau, violett, orange. Die Sonne sich über die Felsen schob.
Ich hab kaum geschlafen, sagte ich, als Sebastian aufwachte, ich leg mich drüben in den Schatten. Ich sah ihm noch zu, wie er den Gaskocher anzündete und Kaffee aufsetzte. Wie er sich in einem winzigen Spiegel nass rasierte. Konzentriert, mit geübten geschickten Strichen der scharfen Klinge auf seiner Haut. Das Geräusch des glatten Schnittes durch die Stoppeln, das wie ein Reißen klang, das langsame Reißen eines Pflasters von der Haut. Im Schatten des Pflaumenbaumes schlief ich ein.
Du, Bastian, würdest sagen, das war aber kein Pflaumenbaum. Das war ein Ichweißnichtwas. Der Ort, an dem wir aus dem Bus stiegen, hieß Pilar. Ach so? Nicht ich habe vorgeschlagen, dort auszusteigen, sondern der Busfahrer. Er sagte, dass er hier immer Urlaub mache, es gäbe einen Zeltplatz unten am Ufer des Rio Grande. Es war ein Stinktier, das am Straßenrand lag, kein Hund.
Du würdest die ganze Geschichte anders erzählen. Du würdest dich vielleicht nicht an unser Bad im Fluss als Erstes erinnern, nicht an die Nacht. Sondern an die Wanderung am nächsten Tag. Als wir die Straße zurück hinauf zum Ort gingen. Im Laden nach einer Karte fragten. Dann hinter den paar Häusern den Pfad über die Geröllhalde am Fuß der Berge einschlugen, uns mühsam, atemlos bergauf quälten. Den Blick auf den Boden gerichtet. Auf der Suche nach indianischen Pfeilspitzen, Pfeilsplittern. Überreste vergangener Zeiten. Wenige Schritte unter dem Gipfel bücktest du dich. Triumphierend strecktest du mir etwas entgegen. Einen länglich spitzen Stein, der tatsächlich einer Pfeilspitze glich.
Wie wir auf dem Gipfel standen. Hinter uns unendlich viele weitere Gipfel ähnlicher Berge. Vor uns die Schlucht des Rio Grande. Die stilisierte Sonne der Flagge New Mexicos in den Fels gehauen.
Würdest du dich daran erinnern wollen, dass du,
du
, sentimental wurdest bei diesem Anblick? Beim Anblick dieser Ferne jenseits der Schlucht. Weit weg jetzt Los Alamos, die alkoholkranken Indianer. Du sahst staunend Büffelherden durch diesen unvorstellbaren Raum ziehen. Du sahst eine Gruppe Apachen, nicht auf der Jagd, Kundschafter, friedlich im Schritt in der Nähe der Herde hin und her reiten. Du standest und stauntest. Nur die Indianer fehlten. Nur die Indianer fehlen und die Büffel, sagtest du nach einer Weile, ich wünschte, sie würden nicht fehlen.
In den frühen Morgenstunden war ich mir sicher, dass ich David nicht mehr sehen, nie mehr sehen wollte. Es gab keinen Platz für ihn. Wohin ich mich auch wandte, er stand im Weg. Ich würde seine Nummer löschen, seinen Namen, ich würde vergessen, wo er wohnte, vergessen, dass es ihn je gegeben hatte. Ich zündete mir eine Zigarette an, sie schmeckte nicht. Ich drückte sie
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