Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Außer sich: Roman (German Edition)

Außer sich: Roman (German Edition)

Titel: Außer sich: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Fricker
Vom Netzwerk:
Ende war, starrte ich zum Fenster raus und füllte in Gedanken die eine oder andere Häuserlücke mit genialen Werken.
    Hallo, sagte Jana, als säßen wir nicht schon seit zwei Stunden nebeneinander. Wir sahen uns an und mussten beide lachen. Ich bin Jana, sagte Jana. Katja, sagte ich. Vor uns waren noch mindestens zwanzig Leute. Es ging seit einer Dreiviertelstunde nicht mehr voran. Kein Laut drang aus den Büros, kein Gemurmel, kein Geklapper von Kaffeetassen, es war, als hätten sich drin alle schlafen gelegt.
    In den folgenden zwei Stunden erfuhr ich, dass Jana aus Schwerin stammte und dass sie im Frühjahr an der Ernst-Busch-Schule mit dem Studium Puppenspiel beginnen würde. Sie verwandelte ihren grünen Schal flugs in Woyzeck. Jawohl, Herr Hauptmann! Der Schal stand stramm. Er trug klobige Militärstiefel, ein Grinsen breitete sich über sein wollenes Gesicht. Diese Rolle lerne sie gerade, sie spiele in einem Studentenensemble. Ich erfuhr, dass ihre Eltern dabei waren, von Schwerin nach Hamburg zu ziehen, dass sie sich letzte Woche von ihrem Freund getrennt hatte und dass sie eigentlich Jana-Lara-Alexandra hieß. Aus dem Fenster des Wartekerkers sah man auf die ruinösen Fassaden der gegenüberliegenden Häuserzeile. Wohnraum war knapp zu der Zeit und keiner gab eine Bleibe freiwillig auf. Obwohl er längst ausgezogen war. Man vermietete die Wohnung unter und der Untermieter vermietete sie seinerseits unter und beide verdienten sich damit eine goldene Nase. Ich wartete hier, um endlich den Mietvertrag für eine eigene Wohnung zu unterschreiben. Spontan bot ich Jana an, mit in die Wohnung an der Gethsemanekirche zu ziehen.
    Es war eine wunderschön gelegene, aber entsetzlich heruntergekommene Wohnung. Sie hatte eines jener langen, schmalen, hohen Badezimmer, natürlich noch keine Zentralheizung, sondern Kachelöfen. Immerhin ein Innenklo und eine Badewanne mit Löwenfüßen. Die Emaillierung war an manchen Stellen abgeplatzt, und besonders romantisch fanden wir den Badeofen. Ich hatte drei Monate mietfrei bekommen und musste dafür die Wohnung selbst renovieren. Jana half mir dabei. Wir wuschen in tagelanger Arbeit die Stuckornamente an den Zimmerdecken aus, befreiten sie von Schichten alter Farbe. Zum Vorschein kamen Labyrinthe. Wir lösten die Tapeten von den Wänden. Darunter fanden wir eine bröckelnde, sandige Fläche, nichts hielt sie jetzt noch zusammen. Bei der geringsten Berührung rieselte Putz herab, brach in ganzen Stücken heraus. Risse von der Decke bis zum Boden ließen uns befürchten, gleich stürze das ganze Haus über uns zusammen. Wir schliffen die rotbraune Farbe von den Dielen, legten vermoderte Stellen frei, besserten sie mit Holzkitt aus. Tränkten den Boden mit wunderbar duftendem Leinöl. Aus schmutzigen Tassen tranken wir Kaffee, aus dem Kassettenrekorder dröhnte
Am Fenster
von den Puhdys. In der Küche schlugen wir den Putz bis zur Ziegelwand ab und ließen sie nackt stehen. Wir konnten tun und lassen, was wir wollten. Keiner machte uns Vorschriften. Wir losten, wer das Zimmer mit dem Balkon beziehen durfte. Das Los fiel auf mich. Der Balkon hatte ein gusseisernes, verschnörkeltes Geländer. Er war baupolizeilich zwar nicht gesperrt, aber so wie er aussah, hätte er sich auch einfach grußlos verabschieden können. Als sei das Haus ein wenig schüchtern, zwängte es sich in eine Fuge zwischen andere Häuser. Die Vögel sangen. Es wurde gerade Frühling. Damals gab es noch keine Miniermotten in den Kastanien.
    Samstags war Badetag. Frühmorgens wurde der Badeofen angeheizt. Bekannte, die bei sich zu Hause weder Dusche noch Badewanne hatten, kamen zu uns. Es gab einen Brunch und einer nach dem anderen ging in die Wanne. Man lag in diesem kuschelig warmen, dampfgeschwängerten Raum in viel zu warmem Wasser, lauschte dem Brodeln im Kessel, dem Fauchen der Luft, wenn sie das Feuer von Neuem anfachte. Man hörte leise die Stimmen der anderen aus der Küche, das Lachen.
    Jana begann mit Puppenspiel und ich mein Architekturstudium an der TU.
    In jeder Erinnerung saß ein Stachel. Als habe das Erlebte schon damals unter den Vorzeichen des später Geschehenen gestanden. Galgenfrist. Als sei das normale Leben nichts als eine Täuschung gewesen angesichts der Dinge, die noch kommen sollten. Und gleichzeitig war es die Erinnerung an eine unantastbar schöne Zeit. Die man nicht, nie genug genossen hat, unfähig zu ahnen, was die Zukunft bringen wird. Ich sah Jana von der Seite an. Ihr Haar war

Weitere Kostenlose Bücher