Außer sich: Roman (German Edition)
aus, ich zerdrückte die angebrochene Schachtel in der Hand, warf sie weg. Ich hatte eben aufgehört zu rauchen.
Wie geht es dir, fragte Jana.
Immer diese Frage.
Es war der erste Besuch bei Jana, Bernd und den Kindern seit damals. Ich hatte mir ein paar Tage freigenommen. Jana hatte mich angerufen und mir befohlen, jetzt endlich zu kommen. Ich fuhr ihr zuliebe oder weil ich nicht schon wieder Nein sagen konnte.
Geht, sagte ich, nur etwas erkältet.
Sie nestelte ein Papiertaschentuch aus ihrer Hose und gab es mir. Ich schnäuzte mich ausgiebig. Die Kinder hatten Herbstferien, und man hörte ihre hellen Stimmen durchs offene Fenster. Lass uns rausgehen, sagte Jana.
Es war ein großes Gehöft auf einem flachen Hügel, umgeben von Baumgruppen. Ein Stück den Steinweg entlang kam man zur Scheune. Willst du die neuen Puppen sehen? Ich nickte. In der Scheune war Janas Werkstatt. Weil sie wegen der Kinder nicht mehr so oft weg sein wollte, hatte sie aufgehört zu spielen und begonnen, Figuren zu bauen. Als wir die Tür öffneten, ließ ein Luftzug die losen Glieder klappern. Ich erschrak. Gehenkte. Schlaff baumelten die Figuren an einem Balken. Die Hälse geknickt. Große Handpuppen und Marionetten, Stabpuppen und Tischpuppen. Einzelteile, Hände und Köpfe auf der Werkbank. Schau hier, sagte Jana, Nathan für die Schaubude. Ausgemergeltes Holzgesicht, graues Haar, grauer Schnurrbart. Und, darf ich vorstellen: Zwerg Nase! Der ist für Greifswald. Sie nahm den Zwerg von seinem Haken. Sagenhaft. Sowie sie eine Figur anfasste, war es, als sei jede Leblosigkeit ein großer Irrtum gewesen. Als sei dies nicht mehr ein Ding aus Stoff und Holz, als sei es für die Dauer des Spiels wahrhaftig ein Zwerg Nase, ein beseeltes Lumpenwesen. Was willst du? Nein, und nochmals nein! Sie stampfte mit dem Fuß auf. Du kannst nicht einfach gehen, wohin du willst. Bleib hier! Hier bleibst du! Jana, ich musste lachen, streite doch nicht mit ihm. Pssst! Schmeiß ich dich in die Ecke, bleibst du dort liegen für immer und ewig, bist ja nur ein Klapperding aus Holz und Lumpen. Fordere ich dich zum Tanz, tanz! Und sie wirbelte mit ihm über den staubigen Boden. Von draußen hörte man Gekläffe und Geschrei. Jana hielt inne. Sie hängte den Zwerg wieder an seinen Haken. Sein vom Tanz freudig erregtes Gesicht sank zurück in eine hölzerne, blasse Starre. Ich zwinkerte ihm zu. Als wir die Tür öffneten, um nachzusehen, was draußen los war, schlotterten die Puppenwesen, als ob ihnen ganz erbärmlich kalt wäre.
Ein zotteliger Hund kam angeschossen und hinter ihm her zottelige Kinder. Laut brüllend das hinterste, kleinste. Jana nahm den Jungen auf den Arm. Schhh, machte sie und wiegte ihn besänftigend hin und her. Er aber wollte runter, hinter den anderen her, zappelte und wand sich. Jana stellte ihn wieder auf seine krummen, kurzen Beine und er strauchelte so schnell er konnte über die Wiese, hinter den anderen her.
Platz genug hier für eine fünfköpfige Familie. Lindenhof hatten sie ihr Anwesen getauft. Genug Platz für Hunde, Gänse und ein paar Schafe. Der gusseiserne Zaun rund ums Grundstück war überwachsen von Buchsbaum, Heckenrosen, Knöterich. Jetzt im Herbst waren die Büsche schütter und man sah durch die Zweige hinunter in die Senke, auf einen Weiher.
Und wie geht es Sebastian im Heim?
Ich zuckte mit den Schultern.
Ist doch die beste Lösung, meinst du nicht auch, so kannst du dein eigenes Leben wieder leben.
Ich nickte.
Musst du ja, irgendwie. Es geht ja weiter.
Ja, sagte ich.
Bernd kam aus dem Haus. Na, macht ihr einen Spaziergang? Wollten wir gerade, sagte Jana, kommst du mit? Er schüttelte den Kopf. Er müsse noch ein paar Anrufe erledigen. Geht ihr mal. Schaust du nach den Kindern?
Ich hatte Jana auf der Wohnungsbaugesellschaft kennengelernt. Wir saßen nebeneinander im Wartezimmer. Sie hatte die Nummer 53 gezogen, ich die 54. Sie trug lustige Schuhe in einem Zebramuster, und ich blickte gedankenverloren auf diese Schuhe, unter deren Sohlen sich Pfützen geschmolzenen Schnees gebildet hatten. Es war die Zeit in Berlin, wo man für alles und jedes Nummern ziehen musste, um anschließend in öden Wartezimmern oder auf dunklen Fluren stundenlang zu warten. Man fühlte sich vergessen, verloren, unentrinnbar einer amtlichen Willkür ausgeliefert. Man hatte kein Recht auf nichts. Sie hätten dich die ganze Nacht lang warten lassen können. Meistens las ich, und wenn ich keine Lust mehr hatte zu lesen oder das Buch zu
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