Außer sich: Roman (German Edition)
Stand wieder auf, zog mir Wollsocken an, einen dicken Pullover. Fror. Ging in die Küche. Setzte Wasser für Tee auf. Neben dem Wasserkocher stand ein Schälchen. Darin Glasscherben, rostige Nägel, ein Kerzenstummel, zwei alte Batterien, ein länglicher, an einem Ende spitz zulaufender Stein. Ich nahm ihn in die Hand, wog ihn, drehte ihn auf alle Seiten. Die Oberflächen waren glatt, die Kanten scharf, leicht gezackt.
Wie wir nach Indianerpfeilen gesucht haben.
Wie über der Prärie die Sonne aufging. Krüppliges hitzeerfahrenes Gesträuch schob lange Schatten ins frühe Licht. Seit zwei Tagen saßen wir im Bus. Ab und zu hielt der Fahrer an einem McDonald’s oder Wimpy’s an. Vierzig Grad im Schatten. Wir hatten keinen Plan. Wo es schön ist, bleiben wir. Es war unsere Hochzeitsreise. Hinter uns saß ein Engländer, Rupert, Molekularbiologe. Er war Vegetarier. Ich mochte sein korrektes Englisch. In Oxford habe er studiert. Warum er denn mit dem Bus unterwegs sei, fragte Sebastian. Warum denn nicht, gab er zur Antwort. Why not? Öffneten sich auf dem Parkplatz eines Schnellrestaurants die Türen, blies die Wüste ihren feisten, glühenden Atem herein. Zwanzig Schritt vom gekühlten Bus bis ins gekühlte Restaurant. Rupert sah aus wie eine vertrocknete kleine Schildkröte. Seit er New York verlassen habe, lebe er von nichts als von Salat. Er war unterwegs nach San Diego. Er wolle noch etwas vom Land sehen, bevor er sein Praktikum beginne.
Nie zuvor hatte ich eine solche Weite gesehen. Geröll, Sand, knorriges Gesträuch. Stundenlang. Keine Berge, keine Hügel. Stand die Sonne hoch genug, war nur noch gleißendes Licht. Bis zum Sonnenuntergang, der blutrot und wunderschön in die Nacht hinübergriff. Wir dösten die meiste Zeit. Rupert, hinter uns, hörte auf seinem Walkman klassische Musik. Purcell, sagte er, wollt ihr auch mal?
In five minutes we are reaching Boston, verkündete der Fahrer über den Bordlautsprecher. Ein paar Passagiere standen erschrocken auf und sahen sich um. Rupert riss sich seine Ohrstöpsel raus und reckte den langen dürren Hals. Der Fahrer lachte meckernd in sein Mikrofon. Sorry, Ladies and Gentlemen, we are reaching Albuquerque, New Mexico. Haha, machte Sebastian. In Albuquerque stiegen wir um, in den Bus nach Denver.
Nach etwa drei Stunden Fahrt sagte Sebastian, hier irgendwo. Ich nickte. Wir nahmen unser Gepäck und gingen nach vorne zum Fahrer. Ob wir dort bei den Häusern aussteigen könnten? Er hielt an. Good luck, sagte er zum Abschied. Am Straßenrand lag ein toter Hund, aufgequollen von der Hitze, voller Maden.
Wir wandten uns den Häusern zu. Dort war ja sogar ein kleiner Laden! Lebensmittel und indianischer Schmuck aus Türkis. Wir kauften das Nötigste für die nächsten Tage ein. Unten, am Rio Grande, sei ein kleiner Zeltplatz, sagte die Verkäuferin, eine ältere Indianerin. Wir machten uns auf den Weg. Es war kurz vor Mittag, höchster Sonnenstand. Mächtige Steinformationen, rötlicher Fels, tiefe Einschnitte. Farben, Licht. Komm, sagte Sebastian, gib mir den Rucksack. Wir bekamen kaum Luft. Wie alte Leute kämpften wir uns Schritt für Schritt vorwärts, abwärts. Auf halbem Weg holte uns der Ranger ein. Mit dem Pick-up fuhr er im Schritttempo neben uns her. Er lachte. Das sei die Höhe, sagte er, immerhin fast dreitausend Meter über Meer. Was? Das hatten wir nicht gewusst. Schon Albuquerque liege auf tausendsechshundert Metern. Der Weg schlängelte sich steil abwärts. Wir müssten unbedingt genug trinken und auf die Stinktiere achtgeben, sagte der Ranger noch, bevor er Gas gab und in einer roten Staubwolke verschwand. Verschwitzt, außer Atem kamen wir unten an. Wir fühlten uns wie Pioniere, wie Cowboys ohne Kühe, Indianer ohne Stamm. Inmitten eines ungezähmten Universums. Nie gehörte Geräusche, absonderliche Gerüche. Wir gingen schwimmen. Im Rio Grande schwimmen! Auf dem Rücken paddelnd, ließen wir uns flussabwärts treiben. Umgeben von roten Felswänden, über uns kreiste der König der Lüfte. Hach. Am Busbahnhof in Albuquerque waren wir Indianern begegnet. Penner, verkommene Gestalten. Nicht weit, sagte Sebastian, liegt Los Alamos. Wahrscheinlich ist alles hier radioaktiv verseucht. Hör auf, sagte ich, musst du, wenns schön ist, immer so blöde Witze machen?
Es war die Wüste. Die Hitze, das Flimmern der Luft. Staubtiere, Schlangen, Eidechsen. Nur in unmittelbarer Nähe des Flusses wuchsen Bäume, etwas Gras. Das ist ein Land, sagte Sebastian, das
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