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Außer sich: Roman (German Edition)

Außer sich: Roman (German Edition)

Titel: Außer sich: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Fricker
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würde seinen Vater nicht kennen. Sein Vater lebte zwar, hätte es aber nie angeschaut. In seinem Ausdruck, seinem Wesen, würde ich Sebastian finden. Die Art, wie es die Nasenflügel bläht, bevor es trotzig mit dem Fuß aufstampft. Die Geschicklichkeit und Sorgfalt, mit der es Dinge anfasst. Die Augen, der Blick. Ich würde in ihm entdecken, was ich bei seinem Vater unaufhörlich suchte. Ähnlichkeit, Anklang. Und Sebastian hätte in seinem Kind vielleicht einen Ausweg.
    Wir würden auf dem Balkon stehen und Papierflugzeuge falten. Eins ums andere dem Wind übergeben. Wir würden ihnen nachsehen, bis sie im Steilflug in die Kastanie stürzten. Krähen würden aufflattern und das Kind erschräke ob der schwarzen Vögel. Ich nähme es auf den Arm und erklärte ihm, dass auch Krähen nur Vögel sind.
    Als säßen Heerscharen von Rabenvögeln direkt nebenan in unserem Wohnzimmer, so laut sind die Schreie. Bastian, flüstere ich, hörst du das? Was ist das? Gehst du nachsehen? Sebastian steht auf, geht ins Wohnzimmer, ich folge ihm. Ich verstecke mich hinter ihm. Vor dem Fenster, auf dem Geländer des Balkons, auf dem Tisch, auf den Lehnen der Stühle, auf den kahlen Bäumen sitzen Krähen. Massenhaft. In der Luft, im Himmel, Krähen. Pechschwarze Vögel. Krähen und krächzen. Rufus kauert auf dem Fensterbrett und faucht. Du gehst zur Balkontür, klopfst erst an die Scheibe und öffnest sie dann. Furchtlos. Die Krähen greifen nicht an, sie flattern auf. Alle miteinander. Flattern auf, fliegen. Auch Krähen sind ja nur Vögel, sagst du, Vögel, die Angst vor dem Menschen haben. Ich glaube dir. Du stehst auf dem Balkon, ich mit klopfendem Herzen daneben. Was für ein Schauspiel! Wir staunen. So etwas haben wir beide noch nie gesehen, so viele Krähen auf einmal. Die Vögel lassen sich erneut nieder. Auf dem Balkon nicht mehr, aber auf dem Klettergerüst des Spielplatzes, auf den Bäumen, auf den Giebeln der Häuser, auf anderen Balkonen und in Fensternischen. Dicht an dicht. Und plötzlich entschließen sie sich, weiterzureisen. Auf in den Osten. Zurück bleibt Vogeldreck.
    Mit einer ruckartigen Straffung der Lippen bleckte er die Zähne. Das Zahnfleisch hatte in der letzten Zeit zu wuchern begonnen, es füllte schon alle Zwischenräume aus, es schien ganz über die Zähne wachsen zu wollen. Die Schultern hingen vornüber, sein Rücken krümmte sich zusehends. Der ehemals aufrechte Körper verzerrt, verbogen. Innerer und äußerer Zustand wurden von Tag zu Tag mehr eins. Wieder bleckte er die Zähne. Begann verhaltene, klagende Rufe auszustoßen. Alles gut. Bastian. Weißt du noch die Krähen? Wie tapfer du warst, ich mich hinter deinem Rücken versteckt habe? Wie Rufus, unser kleiner schwarzer Held, gefaucht hat und das Fell gesträubt und sich nicht auf den Balkon getraut hat? Die Krähen sind lange fort. In solchen Massen sind sie nie wiedergekommen.
    Er hatte gelbkrümelige Brocken in den Augenwinkeln. Vorsichtig klaubte ich sie aus den Wimpern. Strich über die Lachfalten, Hautfalten zum Ansatz der Haare über der Stirn. Du wirst wohl nie eine Glatze bekommen. Hatte dein Vater eigentlich eine Glatze? Das hast du immer gemocht, schon früher, mit den Fingerspitzen die Kopfhaut massieren. Vom Ansatz zum Hinterkopf zum Nacken. Über den Ohren. Kleine Kreise, nicht zu viel Druck.
    Er schloss die Augen. Sein Mund öffnete sich etwas. Die Zunge wölbte sich breit und bauchig über den Zähnen, ihre Spitze suchte Halt hinter der Unterlippe. Sein Kopf wurde schwer. Ich ließ ihn zurücksinken aufs Polster.
    Man hörte wieder den Regen auf dem Sims.
    Ich rückte den Sessel ans Fenster.
    Durchs Fenster sah ich auf das Schiff der Kirche. Vereinzelte Regenschirme gingen vorbei. Nasse Hunde schnürten um die Straßenbäume. Mittlerweile waren fast alle Häuser um den Platz saniert. Vorne an der Stargarder stand, wenn auch modernisiert, noch immer die Telefonzelle, aus der wir früher telefoniert hatten.
    In langen Schlangen wartete man im Schneegestöber, im Regen oder in der prallen Sonne. Man traf sich wieder, man schloss Bekanntschaften. Jana lernte Bernd vor der Telefonzelle kennen. Ich mochte Bernd nicht. Zu sanftes Lächeln, zu gütige Augen. Er erinnerte mich an Mutters Guru. Bald kam Bernd jeden Tag zu uns, zu Jana. Ein halbes Jahr später war Jana schwanger. Sie wollte die Wohnung behalten. Sie sei ja schließlich schwanger und Bernds Wohnung zu klein für drei. Am Ende gingen wir im Streit auseinander. Ich gab Bernd

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