Außer sich: Roman (German Edition)
müssen. Nicht essen wollen?
Bastian, sag. Sag mir, was willst du?
Ich nahm das Tuch und tupfte Sebastians Mundwinkel trocken. Sofort lief neuer Speichel nach. Ich tupfte die Mundwinkel wieder trocken. Sie waren vom ständigen Speichelfluss rissig, gerötet. Ich holte Penatencreme aus dem Bad und schmierte sie damit ein. Seine Lippen waren beinahe keine Lippen mehr. Kein Mund mehr. Kaum grenzte sich die umgebende Haut noch von der Schleimhaut ab. Einzig war sie etwas dunkler, eine Nuance bläulicher. Die Haare seines Körpers waren kurz rasiert. So ließ sich alles leichter sauber halten. Auf der Kopfhaut bildeten sich großflächig Schuppen. Ich klaubte sie heraus, ließ sie auf den Boden fallen. Nur die Augenbrauen waren dichter geworden. Dafür hatte er kaum noch Wimpern. Die Wimpern wuchsen wie Stoppeln etwa einen Millimeter aus dem Lid. Ich konnte mir nicht erklären, warum sie aufhörten zu wachsen. Unter den Augen war die Haut nur noch ein tiefdunkler Hauch. Als lägen die Höhlen frei.
Seine rechte Hand lag im Schoß, mit den Fingern nach oben, wie ein vom Zappeln erschöpftes Käferchen, unfähig, noch einmal zu versuchen, auf die Füße zu kommen. Die Fingernägel waren sehr kurz geschnitten. Rosarote Ränder zeichneten sich darunter ab. Die Nagelbetten waren entzündet. Die linke Hand sortierte Perlen.
Ich massierte ihm den Nacken. Er ließ es geschehen. Strich von oben nach unten und von unten nach oben, knetete dort, wo die Muskulatur am Knochen ansetzt. Ich strich mit den Fingerkuppen über die Narben an seiner Stirn. Derbe, schroffe Hautlandschaften, Schluchten, Plateaus, Dünen auch, rötlich violettfarbener Sand. Erodiert. Ausgespült. Aus manchen frischen Wunden wuchs nach ein paar Tagen blutig-weißliches Gekröse. Wildes Fleisch. Es sah aus wie ein winziges Gehirn. Als wolle der Körper was defekt war auf idiotische Weise anderswo nachbessern. Zurück blieben Narben. Überall Narben.
Die Finger seiner rechten Hand begannen zu zappeln. Als wolle das Käferchen doch noch einen Versuch wagen, wieder auf die Beine zu kommen. Von einem Moment auf den anderen. Krampfartiges Zittern. Er begann, mit dem Kopf gegen das Polster zu schlagen. Ist gut, Bastian, alles gut. Ich legte ihm die flache Hand auf die Brust. Ruhig, ganz ruhig. Es half nicht. Ich nahm ihn am Arm. Er wollte nicht, wollte nicht aufstehen. Ich zog ihn auf die Beine. Hinaus auf den Flur. Auf dem Flur war es stockfinster. Ich machte das Licht an. Treppen steigen. Vielleicht hatte er zu viel geschlafen? Vielleicht war es nicht gut für ihn, zu viel zu schlafen. Zwei Absätze schafften wir. Dann ließ er sich fallen. Krachte mit dem Ellbogen auf die Treppenstufe. Das Licht ging aus. Ich fasste ihn unter beiden Armen um die Brust, versuchte, ihn auf die Beine zu stellen. Es ging nicht. Ich öffnete die Lifttür, blockierte sie. Bugsierte ihn in die Kabine. Wir fuhren hoch in unser Stockwerk. Bastian, steh auf. Er stand auf. Zurück in die Wohnung, in den Sessel. Sobald er saß, kam die Unruhe wieder. Wenn ich ihm jetzt keine Tropfen gab, bekäme er gleich einen Anfall. Ich machte Musik an. Auch das half nicht. Ich holte endlich die Tropfen, gab ihm fünfzehn. Wartete. Ich könnte es ja auch mal versuchen, dachte ich. Sie halfen ihm, warum also sollten sie mir schaden? Und wenn. Fünf Tropfen, nur fünf Tropfen. Mal versuchen.
Ich wurde aber nicht ruhig, sondern stand auf. Ich ging ins Bad, in die Küche, auf den Balkon. Fand nirgends, was ich suchte. Vergaß mit jedem Schritt von Neuem, wohin ich unterwegs war. Ich zog mir die Jacke an, schlang mir den gelben Schal um den Hals und ging. Es war ganz leicht jetzt zu gehen. Das Pflaster glänzte unter den Lichtern der Nacht. Es interessierte mich nicht, wohin ich ging. Hatte, kaum draußen, vergessen, was ich zurückließ. Die Straßen waren voll. Voller Menschen. Was ist da los, wo gehen die alle hin? Ich wurde geschoben. Von Fremden. Beidseits Häuser. Hallo, wo geht ihr hin? Soll noch einer sagen, ich ginge nicht unter Menschen. Ha, und wie ich unter Menschen gehe! Manche trugen Transparente. Eine Demonstration, dachte ich, aber gegen was? Die Buchstaben auf den Schildern und Stoffbahnen verschwammen vor meinen Augen. Weiter vorne war Musik, seltsame Musik, Marschmusik, Tätterätätämm. Alle gingen in die gleiche Richtung. Jemand schrie Parolen in ein Megafon, der Schall brach sich an den Hauswänden. Es wurde enger und lauter. Das kann nicht gut gehen, dachte ich. Spürte heißen Atem
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