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Außer sich: Roman (German Edition)

Außer sich: Roman (German Edition)

Titel: Außer sich: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Fricker
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die Schuld.
    Später, viel später, begegnete ich Jana wieder. Wir trafen uns zufällig an einem Sonntag auf dem Flohmarkt an der Museumsinsel. Wir standen nebeneinander und stöberten in antiquarischen Büchern. Jana!, sagte ich, ohne zu überlegen. Sie wandte den Kopf. Katja!, rief sie, und als habe mir dieser Streit jahrelang auf der Seele gelegen, fühlte ich mich mit diesem Katja erleichtert, befreit. Hast du Lust, fragte ich, auf einen Kaffee? Wir setzten uns beim Zeughaus draußen hin. Jana war wieder schwanger. Wohnst du noch in der Wohnung?, fragte sie als Erstes. Ich nickte, mit Sebastian. Das Gespräch stockte. Lass uns die Geschichte doch einfach vergessen, einverstanden?
    Jana sah gut aus. Sie trug ein geblümtes Trägerkleid, ihre Hände lagen auf dem festen, runden Bauch. Was wird es?, fragte ich nach einer Pause. Ich weiß nicht, wir wollen uns überraschen lassen. Und ihr, habt ihr Kinder inzwischen? Es war laut, es war eng. Die Tische standen dicht an dicht. Reisebus um Reisebus hielt vorne an der Brücke, Massen stiegen aus und drängten zwischen Spree und Café Richtung Flohmarkt. Wir arbeiten beide viel, sagte ich, und Sebastian will sich bald selbstständig machen. Immer wieder wurden wir unterbrochen, Leute wollten vorbei, die Bedienung kam nicht, auf dem Tisch stapelte sich das Geschirr früherer Gäste. Wir saßen in der prallen Sonne. Wir hätten woanders hingehen sollen. Jana nahm einen Umschlag aus ihrem Beutel. Magst du ein paar Fotos ansehen? Bernd und Felix, da ist er anderthalb. Hexe, unser Hund. Das Haus, die Scheune, der Garten, die Schafe. Bernd hatte jetzt kurze, der Hund lange Haare. Spielst du eigentlich noch?, fragte ich. Manchmal, sagte sie, selten. Sie habe angefangen, Puppen zu bauen. Ich hatte keine Fotos dabei, weder eins von Rufus noch eins von Sebastian. Ich sah auf die Uhr. Musst du weg?, fragte Jana. Ich nickte. Ich bin noch verabredet. Das stimmte nicht. Ich hätte Zeit gehabt.
    Schade. Besucht uns doch mal in Mecklenburg! Sie kritzelte ihre Telefonnummer auf eine gebrauchte Serviette. Klar, sagte ich, gerne! Wir umarmten uns zum Abschied. Ich ruf dich an!
    Ich holte eine zweite Decke und legte sie Sebastian um die Beine. Über den Häusern begannen sich Wolken aus dem eintönigen Grau zu lösen. Zarte, dunkelrosa Gebilde. Kein Zeichen für schöneres Wetter. Aber wenigstens hatte es aufgehört zu regnen. Damals hatte dieses Zimmer blaue Wände und dunkelrote Samtvorhänge. Bühnenvorhänge, hatte ich immer gesagt. Damals hatte mir das gefallen. Jetzt war es ein Raum, in dem alles rein und karg war. Nur Staub sammelte sich in den Ecken. Spinnweben bildeten ein feines Netz über dem Stuck, die eine oder andere Fliege hatte sich darin verfangen.
    Ich setzte mich auf das breite Fenstersims. Den linken Fuß schob ich vorsichtig an der Seite unter Sebastians Arm. Spürte die Wärme. Er wachte nicht auf.
    Da sitzt du nun. Schläfst, wachst, wartest auf mich. Wartest. Warten worauf? Auf mich? Ich bin ja da. Worauf also? Ich höre.
    Stunden, Tage, Monate, Jahre.
    Vergehende Zeit. Die Spanne, bis wieder etwas geschieht. Bis jemand kommt. Darunter leiden, dass jemand nicht kommt. Spürst du die Last und die Leichtigkeit der Sekunden?
    Da sitzt du nun und wartest nicht. Die innere Uhr zerbrochen. Nicht wissen, dass Zeit vergeht. Nicht hoffen, dass etwas geschieht. Nicht enttäuscht sein, wenn niemand kommt, nicht wissen, dass niemand kommt. Keine Vorstellung, weder von Vergangenheit noch von Zukunft.
    In der Gegenwart für immer angekommen.
    Die Banalität der totalen Gegenwart.
    Keine Zeit geht, keine Zeit kommt.
    Für immer Jetzt.
    Ich bin bei dir. Spürst du meine Hand auf deiner Hand?
    Jetzt.
    Wachst du auf.
    Jetzt erschrickst du.
    Jetzt schreist du.
    Zetermordio.
    Als steche ich ein Messer langsam in deine Brust.
    Als wolle ich dich mit Streicheln töten.
    Du hast vergessen, dass Berührung schön sein kann.
    Sei still, bitte.
    Ich tu dir doch nichts.
    Die Angst, es tue dir etwas weh. Nicht wissen, was. Angst, es tue dir gar nichts mehr weh. Nicht wissen, was hilft. Streicheln oder nicht streicheln. Dich in Ruhe lassen. Nichts weiß ich mehr von dir. Nichts scheint mehr verlässlich. Mitfühlen oder Hornhaut auf der Seele? Weitermachen. Herz schlägt, Lunge holt Luft, Därme verdauen. Wo sind die Träume, die Wünsche, der Wille? Der Mensch ist ja kein Pantoffeltierchen.
    Weder guter noch böser noch freier Wille. Sich hinsetzen müssen. Perlen klauben müssen. Essen

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