Außer sich: Roman (German Edition)
im Nacken. Mir war, als verschwände der eine oder andere, ginge unter, lautlos. Gleichgültig trieb die Menge weiter. Ich hatte weder Angst noch Panik, im Gegenteil, ich machte einfach Schritte, kleine Fortschritte. Wie alle anderen. Die Schritte waren zu kurz für die Musik, sie waren nicht fest genug, nicht im Takt. Der Menschenwurm schlich durch Straßen, über Plätze, schlich durch die Nacht. Vorwärts und vergessen! Vor mir ging ein Mann mit blondem Schopf, wie üblich zerzaust. Er reckte die Faust. Alle reckten die Fäuste. Er trug einen speckigen Ledermantel. Ist das jetzt vielleicht wieder Mode? Ich legte meine Arme um den Mantel, legte die Wange an die feuchte derbe Tierhaut. Wie dieser Geruch sich von allen anderen Gerüchen unterschied, für mich. Er drehte sich um. Es war ein Junge, der unser Sohn hätte sein können. Sorry, sagte ich, ich dachte … Er nahm es mir nicht übel, er hatte weite Pupillen, wahrscheinlich sah er mich ganz blumig oder er hielt mich für Rosa Luxemburg. Wollte mich umarmen. Ich hätte ihn am liebsten geohrfeigt. Ich drängte weg von ihm, raus aus dem Strom. Ich trieb in eine Seitenstraße, versprengt standen da und dort noch Grüppchen zusammen. Mitten auf der Straße balancierte ich auf dem schmalen glänzenden Band einer Tramschiene. Der Lärm blieb zurück. Ich war ein Teilchen, losgerissen, abgerissen von etwas. Als einziger Halt diese soliden, stählernen Stränge, ein Restlicht noch schwach reflektierend. Streng, stur, geradeaus. Es begann wieder zu regnen, ein feiner Nieselregen, Nebelstaub fast nur. Lampen gaben ein kaltes, künstliches Winterlicht. Über mir die Schemen einer Brücke, einer robusten Konstruktion, sich im Nebel, im Dunkel verlierend. Das hatte Sebastian immer fasziniert. Uns. Ja, uns hatte das fasziniert. Brückenkonstruktionen, Stahlteile fest vernietet. Industriebauten, Engpässe. Wüstungen, Projektionsräume für Neues, nie Gesehenes. Überall witterten wir Bauchancen. Wir fühlten uns als Teil des Aufbruchs. Was ist, was entsteht, was ändert sich? Die Schienen führten in einer weiten Schleife um eine Häuserinsel, letzte oder erste Haltestelle, mündeten in die Straße, aus der sie vordem gekommen. Ich verließ die Schienen, querte eine Brache, kam zu einer breiten Straße. Im Augenwinkel glitterte das blausilberne Lamettazelt eines Gebrauchtwagenhändlers. Daneben noch einer, noch einer, viele. Wo bin ich da hingeraten? Ich bin wohl unversehens in vergangene Zeiten geraten. In die Zeit, als ich neu war in der Stadt. Noch niemanden kannte. Zu erfrieren drohte, obwohl ich warme Kleider trug und mein Zimmer geheizt war. Zu erfrieren in der Hässlichkeit. Meine erste Wohnung lag in einem Hinterhaus an einer Hinterstraße. Ofenheizung, Klo halbe Treppe. Als sei hier die Zeit stehen geblieben, bevor ich überhaupt geboren war. Es war im Dezember, es war kurz nach der Wende. In der Luft lag schwefliger Gestank von Abgasen, von nur halb verbrannter, billiger tschechischer Kohle. Ich ging planlos durch die Straßen. Allgegenwärtig waren schon damals die silbern und blau glitternden Lamettazelte der Gebrauchtwagenhändler. Und zerrupftes, löchriges Grün dort, wo vor dem Krieg Häuser gestanden hatten. Und orangefarbene kreischende Tatra-Straßenbahnen. Und vietnamesische Zigarettenverkäufer an jeder Ecke.
Jetzt war fast zwanzig Jahre später. Wieder war ich unterwegs allein, ohne Sebastian. Ich fror. Der Schal war weg. Hatte ich ihn unterwegs verloren oder gar nicht umgelegt?
Nein, ich mochte diese Stadt nicht. Warum war ich geblieben? Es hatte sich ergeben und ich hatte aufgehört zu suchen. Und müsste ich diese Stadt nun plötzlich verlassen, würde ich zurückkehren wollen, und wäre ich zurück, würde ich mich fragen, warum um alles in der Welt ich zurückgekommen bin.
Angelockt von blassblauen Lichtern. Leuchtbuchstaben. Schering, Chemical Industries. Der Verkehr nahm zu. Trotz Sonntag. Heute ist doch Sonntag? Glaub schon. Nieselregen, Sprühregen, Fitzelregen, klamme Kälte. Sähe einer aus dem Fenster, oben im Schering-Hochhaus, eine Putzfrau oder ein schlafloser Forscher. Aus einem der Fenster, die nicht geöffnet werden können. Sähe hinunter auf die Straße, würde er die Frau ohne Schal im Nieselregen auf dem Bürgersteig vielleicht nicht einmal bemerken. Oder er würde sie bemerken, sich aber nichts dabei denken. Jeder in dieser Stadt kann schließlich tun und lassen, was er will. Sich in abscheuliche Gegenden begeben. Um die
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