Außer sich: Roman (German Edition)
Wohnzimmer? Kaffee? Ohne eine Antwort abzuwarten, stellte sie mir eine Tasse hin, setzte sich zu mir.
Entschuldige, sagte sie, aber mir gehts nicht gut. Die Hälfte des Teams sei krank, und sie selbst mache Überstunden ohne Ende, obwohl sie eigentlich auch krank sei.
Er hat Druckstellen am Arm, sagte ich, was ist passiert? Gestern beim Essen, sagte Therese müde. Er wollte wieder nicht essen. Der Zivi hat versucht, ihm den Löffel trotzdem in den Mund zu schieben. Da hat er einen Anfall bekommen. Wir mussten ihn festhalten, zu zweit.
Hör mal, sagte sie dann. Das geht so nicht weiter. Er isst kaum noch was. Diese Woche ist es ganz schlimm gewesen. Es ist nichts Organisches, sagt der Arzt, kein Infekt, kein Magengeschwür, keine Schluckhemmung oder so. Und das Medikament haben wir ja auch gewechselt. Er könnte essen. Ehrlich, Katja, bei jedem Essen sitzen wir ewig mit ihm da und versuchen, irgendwas in ihn reinzukriegen. Nicht mal Nutellabrote mag er noch. Nicht mal Nutella ohne Brot. Wir wissen einfach nicht mehr, was wir machen sollen, er hat ja kaum noch Reserven.
Vielleicht isst er ja bei dir besser. Isst er bei dir besser? Ich sah sie an. Langsam schüttelte ich den Kopf. Nicht mehr. Wenn das so weitergeht, sagte Therese, sagt der Arzt, muss man sich was überlegen. Dann muss man überlegen, ob man eine Sonde legt und ihn künstlich ernährt.
Nicht mehr essen.
Keinen Hunger spüren.
Traut man ihm einen freien Willen zu?
Nicht mehr essen
wollen?
Zutrauen, es sei ihm bewusst, dass ein Mensch, wenn er nicht mehr isst, stirbt?
Glauben, er
wolle
sterben?
Er habe den Tod als das kleinere Übel
gewählt?
Respekt vor den Zeichen des Körpers, des Geistes?
Zu einfach?
Keinen Respekt also?
Ihn zwingen, Nahrung aufzunehmen.
Ihn zwingen, weiterhin in Sesseln zu sitzen, Perlen zu klauben. Warten, nicht warten.
Was sonst.
Ich stand auf und holte Sebastian. Zog ihm die Mütze an, schulterte den Rucksack. Wir gingen. Vor zur Straße. Darüber hinaus gerieten wir in ein Viertel, das ich nicht kannte. Obwohl es so nah, so mittendrin lag, dass man es eigentlich kennen müsste, war mir dieser Teil der Stadt vollkommen fremd. Am Ende einer Sackgasse stand eine Gittertür offen. Dahinter lag ein Freibad. Wir überquerten eine Liegewiese. Volle Abfallkörbe, Bierdosen, verwitterte Plastiktüten lagen ringsum verstreut. Dann standen wir am Rand des Schwimmbeckens. Die blaue Farbe war fleckig abgeplatzt, Graffitis bedeckten einen Teil der Wände, vermodertes Laub hatte auf dem Grund schon eine Schicht Humus gebildet. Unkraut wuchs und das eine oder andere Bäumchen. Ein Sprungturm, dessen Leiter abmontiert worden war. Es sah aus wie eine nicht vollendete Installation. Toll, sagte ich, findest du nicht? Eine Brache so nahe der Mitte der Mitte. Ein noch nicht zugebautes Stück Stadt. Einfach so lassen? Das wärs. Was meinst du, wie viele Jahre es dauern würde, bis ein Wald im Schwimmbecken stünde? Ein rechteckiger Urwald. Plötzlich machte Sebastian einen Schritt vorwärts. Bastian! Ich packte ihn. Nicht so nah, komm zurück.
Jemand rief, hallo Sie, halloo! Ich sah mich um. Ein älterer Herr, an der Leine einen Dackel, kam vom Eingang her. Er ging mühsam, gebückt, aber ohne Stock. Das Klappern von Sebastians Kette wurde eiliger. Die Tür war offen, sagte ich. Der Mann blieb vor uns stehen. Die Jugendlichen, sagte er, die machen alles kaputt, sieht man ja. Ich nickte. Wie lange ist es schon geschlossen? Nach der Wende. Es soll abgerissen werden, sobald die Eigentumsverhältnisse geklärt sind. Und dann? Appartements, sagte der Mann, Büros. Er begleitete uns hinaus. Verschloss das Gittertor mit einem schweren Schloss. Früher, sagte er, war ich hier Bademeister.
Ich hatte keine Ahnung, wo genau wir waren. Ich orientierte mich am Fernsehturm. Sebastian ging still neben mir. Noch schien er nicht müde zu sein. Noch wollte er sich nicht überall hinsetzen. Je näher wir dem Alex kamen, desto deutlicher löste sich aus dem Feierabendlärm der Stadt eine Stimme, Musik. Laute Musik,
Über siieeben Brüücken musst du gehn
. Auf dem Schlossplatz war Weihnachtsmarkt. Komm, lass uns schauen gehen. Ich war mir nicht sicher, ob er das alles ertragen würde. Ob das nicht viel zu viel war. Die Mütze war ihm über die Augen gerutscht. Ich schob sie nach hinten. Zwischen den Ständen war kaum Platz. Weihnachtsmusik, Rockmusik, Schlager. Ein Nikolaus mit Eselchen mitten im Trubel. Ich kaufte Russisch Brot. Schob Sebastian kleine
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