Außer sich: Roman (German Edition)
Stücke zwischen die Lippen. Er spuckte sie aus. Wir trieben hinüber zu den Fahrgeschäften. Achterbahn, Geisterbahn, eine riesige Schiffsschaukel, ein Piratenschiff. Möchtest du? Ich kaufte zwei Karten und wir setzten uns auf die Bank neben dem Kartenhäuschen. Es dauerte eine ganze Weile, bis das Schiff zum Halten kam. Gleich neben dem Einstieg fanden wir einen Platz. Ich legte meinen Arm um Sebastians Schulter. Es begann zu schneien.
Erst pendelte das Gefährt gemütlich träge hin und her. Sebastian wusste damit nichts anzufangen, er schlug sich ein bisschen auf den Schenkel. Ich lehnte mich zurück, legte den Kopf in den Nacken, machte den Mund auf in der Hoffnung, eine Schneeflocke finde den Weg auf meine Zunge. Lichter wischten vorbei, Musik schwoll an und ab. Nach und nach nahm der Schwung zu. Immer höher schwang der mächtige Schiffskörper. Schung, schung, schung. Stillstand an der höchsten Stelle, Umkehrpunkt, toter Punkt. Geschrei, Gekreische, Rückschwung, fallen. Sebastian lachte. Er lachte. Ich begann auch zu lachen, ich begann zu schreien, ich schrie in den Lärm hinein, über den Lärm hinaus, lauter, als Sebastian jemals geschrien hatte. Wo sonst in einer Stadt voller Menschen durfte man so hemmungslos schreien? Wir, zusammen. Dann, allmählich, wurde die Fahrt gebremst. Die Farbschlieren verwandelten sich zurück in Lampen, Lichtröhren. Einzelne Gesichter lösten sich aus der wartenden Menge. Einzelne Worte blafften aus Lautsprechern. Marktgeschrei, Mädchengekicher, Musik. Sebastian war etwas blass. Bevor wir ausstiegen, drückte ich ihn an mich.
Ich klemmte seinen Arm fest unter meinen. Schnell könnte es sonst passieren, dass er von mir weggedrängt würde, mit der Menge weitergetrieben. Er stolpern würde und fallen, Tausende Füße gleichgültig über ihn hinwegtrampeln würden, und ich wäre nicht da. Ich dachte an Jana. Sie war jetzt allein dort oben. Allein mit dem Haus auf dem Hügel, den Kindern, den Tieren, den Puppen. Jana hatte den Schlüssel mitgenommen. Was, wenn sie zurückkäme? Der Weihnachtsmarkt spuckte die Menschen aus einem engen, tannenverzierten Gatter hinaus auf den weiten Schlossplatz. Die Mütze war schon wieder über Sebastians Augen gerutscht. Ein paar Meter entfernt stand ein Paar mit zwei Kindern. Die Frau kauerte vor dem kleineren Kind und fädelte den Reißverschluss seines Anoraks ein. Zog ihm die Kapuze über den Kopf, strich ihm die Haare unter die Kapuze. Es schneite jetzt stärker. Auch der Mann trug eine Mütze, deswegen erkannte ich ihn nicht gleich. Es war Lührs. Jetzt sah er zu uns herüber. Ich nickte, er nickte zurück. Sebastian brabbelte. Lührs legte den Arm um die Schultern seiner Frau, jeder fasste die Hand eines Kindes. Sie gingen langsam Richtung Alex.
Wie sie wohl in Zukunft in der Uckermark die Feiertage verbringen würden? In dem Haus, das noch nicht stand. Bilder, die noch weiß sind. Stille Tage im Schnee. Die Kinder auf handwarmem Schiefer mit Klötzchen spielten, Frau Lührs Flöte üben würde, im Zimmer nebenan. Er, was würde er tun? Worte suchen für seine Kunden? Etwas ganz anderes lesen? Etwas, das nichts mit seinem Beruf zu tun hatte. Schreiben? Weil er seine Zukunft nicht in werbewirksamen Sprüchen sah, sondern in Geschichten. In Gedichten? Ich blickte ihnen nach, wie sie allmählich im Schneegestöber verschwanden. Sebastian, an meiner Seite, wurde schwer. Bastian, bevor du schlafen kannst, müssen wir nach Hause, komm.
Vor dem Haus stand ein Umzugswagen. Zwei junge Männer saßen auf der Ladefläche und rauchten. Stühle standen im Schnee auf dem Gehsteig, ein Bücherregal, zwei Kartons. Hallo?? Ihr könnt die Sachen doch nicht einfach im Schnee stehen lassen!, rief eine raue Frauenstimme von oben. Die Männer schnippten ihre Kippen zu Boden und begannen, das Regal und die Kartons in den Aufzug zu laden. Wir quetschten uns daneben. Die Tür der Nachbarin stand offen. Die Frau mit dem Dutt erwartete ihr Umzugsgut im Flur. Sie trug heute eine Jeans und ein weites Hemd, an den Füßen Latschen. Selbst in dieser Kleidung wirkte sie elegant. Sie nickte uns knapp zu. Meine Nachbarin war nirgends zu sehen. Aber zu hören: Laura, kommst du bitte mal?! Es hallte, als wäre die ganze Wohnung ausgeräumt.
Sobald Sebastian im Sessel saß, sank sein Kinn auf die Brust. Kurz darauf döste er schon. Ich nahm ihm die Mütze vom Kopf. Öffnete die Klettverschlüsse an seinen Schuhen, zog sie ihm aus. Die Jacke ließ ich noch. Auf dem
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