Außer sich: Roman (German Edition)
Balkon lag der Schnee knöcheltief, an den Rändern verweht. Ich ging hinaus, zündete mir eine Zigarette an. Der Rauch stieg erst in einer dünnen Schnur nach oben und verwirbelte, von einem Lufthauch erfasst, spiralförmig, um nach einer Weile weiter schnurgerade nach oben zu steigen. Es war eine nächtliche Helle draußen, von den Straßenlampen diffus verstärkt. Fast alles war zu sehen. Schnee auf den Bäumen, auf dem Dach der Kirche, auf Barlachs Geistkämpfer. Die Geräusche gedämpft. Eine Katze saß auf der Bank des verwaisten Kinderspielplatzes. Bsbsbsbss. Die Katze sah hoch. Ich drückte die Zigarette aus. Gegen die Wand gelehnt stand unser Weihnachtsbaum, eine kleine buschige Tanne. Ich fragte mich, warum Lührs ein Haus auf dem Land bauen wollte, seine Frau aber nicht.
Dann will ich gehen und sie will bleiben, hörte ich Thomas sagen.
Dann müsst ihr eben beide das Gleiche wollen.
Ganz so einfach ist es nicht.
Aber so schwierig nun auch wieder nicht.
Vielleicht würde Frau Lührs das Haus dann doch irgendwann mögen. Die Ruhe darin, die Ruhe draußen nicht mehr missen wollen. Obwohl sie sich das nicht hatte vorstellen können.
Im Kühlschrank waren Hähnchenschenkel. Ich nahm sie raus und legte sie in eine feuerfeste Form. Rosmarin, Kurkuma, Curry, Salz, Pfeffer, Öl. Ab in den Ofen. Kartoffeln. Ich begann zu schälen, an einem Ende setzte ich an. Das Messer fuhr weich in das helle, mehlige Wurzelgemüse, schälte den Streifen Haut ab bis zur unteren Spitze. Übrig blieb diese nackte Knolle, schutzlos jetzt das weißfleischige Innere, da und dort perlmuttschimmernde, nie ausgetriebene Keime. Ich schnitt die Kartoffel sauber in etwa gleich große Stücke, legte sie in den Topf mit gesalzenem Wasser. Schnitt Zucchini in Scheiben, Tomaten. Schichtete sie zum Blanchieren in einen anderen Topf.
Jana würde die Tiere und die Kinder nicht allein lassen können, um zurückzukehren. Sie würde es nicht tun. Aber sie hatte den Schlüssel in der Tasche, den Schlüssel zu einer Wohnung, die einmal auch die ihre gewesen war. Das reichte vielleicht schon.
Ich breitete ein weißes Tischtuch über den Tisch. Dazu mattgrüne Servietten. Kerzen, Silberbesteck, Rotwein.
Bastian? Essen ist fertig!
Er öffnete nur ein Auge. Komm. Vorsichtig zog ich ihm die Jacke aus. Er roch streng. Nicht schlimm, ich würde ihn nachher sowieso baden.
Ich löste etwas Hähnchenfleisch vom Knochen, Kartoffeln dazu, Gemüse. Pürierte alles.
Schau, Hähnchen mit Kartoffeln und Zucchini.
Er quengelte, schlenkerte mit dem Kopf.
Alles gut, Bastian.
Ich gab ihm den Löffel.
Trocknete ihm die Lippen.
Stell dir vor.
Ich baue ein Haus in der Uckermark, für diesen Werbemenschen, Lührs, der von heute Nachmittag, erinnerst du dich, mit den Kindern. Und der blonden Frau.
Statt zu essen, klatschte er den Löffel in den Brei. Bastian, nicht! Ich nahm ihm den Löffel aus der Hand und füllte ihn halb. Mund auf. Schau, so. Ich öffnete den Mund. Er öffnete den Mund nicht. Er drehte den Kopf zur Seite.
Ich ließ den Löffel sinken.
Ist gut, Bastian, du musst nicht, wenn du nicht willst.
Ich lass den Teller hier stehen, falls du es dir noch anders überlegst.
Vertikallattung Fassade. Innen Schiefer. Die Landschaft in den Fenstern, großes Kino.
Aber die Frau will dort nicht sein, die Kinder auch nicht, sagt Lührs. Ich frage mich wirklich, warum er überhaupt ein Haus baut. Nur für sich?
Ich ließ Wasser für ein Bad ein.
Die Windel war nicht besonders voll. Wässriger Schleim. Ich wusch ihn untenherum, damit er nicht in dreckigem Wasser sitzen musste. Setzte ihn auf den Badewannenrand. Hielt ihn wie ein zu großes, zu dünnes Kind um Rücken und Oberschenkel, hob seine Beine über den Rand. Deutlich waren die Rippen zu sehen, die Wirbelsäule stand weit vor. Die Haut, der Hautmantel, war faltig und zu groß, an Gesäß und Rücken hatten sich vom vielen Sitzen dunkelrote, schuppige Druckstellen gebildet. Sobald das Wasser die Haut berührte, schrie er spitz auf. Ich kontrollierte noch einmal die Temperatur. Genau richtig. Warten, bis sich seine Haut an die Wärme, an das Nass gewöhnt hatte. Dann ließ ich ihn vorsichtig ins Wasser gleiten. Er machte sich steif, hielt die Luft an.
Alles gut, Bastian.
Auch ich zog mich aus, setzte mich zu ihm in die Badewanne. Das Wasser stieg bis zum Rand, schwappte über. Er hielt den Kopf nach vorne gereckt, die Beine waren nach innen gedreht, die Knie gegeneinander gepresst, mit beiden
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