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Aussicht auf Sternschnuppen

Aussicht auf Sternschnuppen

Titel: Aussicht auf Sternschnuppen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katrin Koppold
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verschränkt und schaute aus dem Fenster.
    Kurz hinter München war die vorbeiziehende Landschaft hügeliger geworden. Bauernhäuser mit Holzfassaden und Balkonen säumten vereinzelt oder in kleinen Gruppen die Autobahn. Kirchen mit roten Zwiebeltürmen vervollständigten die idyllische Szenerie. Auch das Wetter schien sich zu bessern und die schwarz-graue Wolkendecke über uns wurde zunehmend von weißen Wattebergen durchbrochen.
    Das Schweigen in dem Smart war unbehaglich. Nils hatte anfangs versucht, es zu überbrücken, indem er nach einem störungsfreien Sender im Radio gesucht hatte, aber die Antenne des Wagens war wohl kaputt oder zu schwach, um in nicht unmittelbarer Stadtnähe ein Signal zu empfangen.
    Keiner von uns schien so richtig zu wissen, was er mit dem anderen reden sollte und der einzige Anknüpfungspunkt für ein Gespräch, der mir spontan einfiel, waren seine Eltern.
    Ich könnte zum Beispiel sagen: „Hey, ich habe früher, als mein Ex-Freund Olli noch nicht mit meinem Fernseher auf und davon war, Ihren Vater im Tatort gesehen. Ist er so nett, wie er aussieht?“ oder „Ihre Mutter hat mir als Antoinette in den Buddenbrooks sehr gut gefallen. Läuft sie zu Hause auch immer wie aus dem Ei gepellt herum?“
    Aber dann hätte ich zugeben müssen, dass ich mittlerweile sehr wohl wusste, wer er war und diese Genugtuung wollte ich ihm nicht verschaffen. Als Sohn zweier bekannter Schauspieler musste er sich ja für wer weiß etwas Besseres halten. Auf der anderen Seite hatte er eben bei unserer Vorstellung seine Eltern nicht erwähnt. Vielleicht war es ihm auch unangenehm, ständig auf sie angesprochen zu werden. Ich könnte ihn in dieser Hinsicht sogar verstehen.

    Was meine eigene Familie betraf, so hatte ich schon immer das Gefühl gehabt, nicht richtig dazuzugehören. In der Pubertät ging dieses Entfremdungsgefühl sogar so weit, dass ich Nachforschungen anstellte, um herauszufinden, ob ich nicht vielleicht adoptiert worden war. Doch ich wurde enttäuscht. In der Dokumentenmappe meiner Eltern fand ich meine Geburtsurkunde, die eindeutig belegte, dass ich die leibliche Tochter von Ludmilla („Milla“) und Karl-Heinz Baum war.
    Schaut man sich Familienalben aus früheren Jahren an, so sieht man stets ein großes, hoch aufgeschossenes Ding mit praktischem Topfschnitt leicht abseits am Bildrand stehen, das auf seine drei kleineren Geschwister, die alle in mehr oder weniger geblümten Kleidchen stecken, etwas verwirrt herunterschaut.
    Meine Eltern hatten sich als erstes einen Jungen gewünscht. Doch anstatt darüber enttäuscht zu sein, dass ich „nur“ ein Mädchen war, ignorierten sie die Tatsache, dass mir zu ihrem perfekten Kind ein winziges Detail fehlte. Und so wurde ich ausschließlich in praktische Hosen gesteckt und ging zu Fasching als Cowboy oder Indianer verkleidet. Und als hätte ich es bereits als Baby geahnt, dass ich sie schon bei meiner Geburt aufgrund meines fehlenden Penis enttäuscht hatte, bemühte ich mich, so unauffällig und angenehm wie möglich zu sein, und meine Eltern waren drei Jahre lang fest davon überzeugt, dass mein ruhiges und pflegeleichtes Wesen allein ihrer fabelhaften Erziehung zu verdanken war.
    Diese Illusion wurde ihnen jedoch mit der Geburt meiner Schwester Felicitas geraubt. Fee war laut, fordernd, schlief nie und hatte auch keinen Penis. Aber bei ihr schienen meine Eltern diese Tatsache nicht allzu schlimm zu finden. Im Gegenteil! Sie lachten nur über die Laune der Natur und nahmen sich vor, es noch einmal zu versuchen und beim dritten Mal alles richtig zu machen.
    Doch obwohl die beiden nur an ausgewählten Tagen miteinander in bestimmten Stellungen schliefen und mein Vater sich monatelang nur von Tofu ernähren durfte (Ich weiß es, denn meine Mutter gehört leider zu den Menschen, die über ihr Sexualleben offen reden!), kamen bereits 16 Monate nach Fee zwei winzig kleine Mädchen auf die Welt. Angesichts des Schocks, dass statt eines Babys gleich zwei aus ihrem Bauch herauspurzelten, war die Enttäuschung darüber, mal wieder keinen Stammhalter gezeugt zu haben, verschwindend gering. Milla weinte nach der Geburt zwei Wochen ohne Unterbrechung. Doch danach fing sie sich wieder, wie sie es immer tat, und gab ihren beiden Töchtern die mädchenhaftesten und lieblichsten Namen, die man sich denken kann: Mia und Lilly.
    Seit Jahren schon versuchte ich, mir erfolglos einzureden, dass ich mein fehlendes Selbstwertgefühl auf meine Familie projizierte, aber

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