Aussicht auf Sternschnuppen
genug?“, entgegnete ich empört.
Doch Lydia Sing blieb ungerührt. „Nein, das war das Mindeste, was Sie tun konnten. Mich hätte gestern Abend der Schlag treffen können, als ich Ihnen gegenübergestanden habe.“
Das bezweifelte ich zwar, jetzt wo ich wusste, dass ihr zartes Äußeres trog, aber ihrer Argumentation hatte ich dennoch nichts entgegenzusetzen.
Also fragte ich resigniert: „Was kann ich für Sie tun?“
„Sie haben einen Leihwagen?“
„Zumindest einen halben.“
„Wohin geht die Reise?“
„Nils möchte nach Vinci und von dort weiter in die Maremma. Meine Reiseroute wird wohl von Ihrer Geschichte abhängen.“
„Wo liegt Vinci?“
„In der Nähe von Lucca.“
Sie kramte in ihrer Tasche nach einer Straßenkarte und studierte sie einige Augenblicke aufmerksam. Dann sah sie mich an. „Das trifft sich gut. Es wäre für Sie nur ein kleiner Umweg.“
„Wieso Umweg? Wollen Sie ein Stück mitfahren?“
„Ich muss nach Viareggio. Das ist ein Küstenort, vielleicht 40 Kilometer von Lucca entfernt. Ich möchte dort jemand besuchen. Auf dem Weg dorthin werde ich Ihnen meine Geschichte erzählen. Nehmen Sie mein Angebot an?“
„Aber Sie haben doch selbst ein Auto?“
„Nein, denn das habe ich Ihrem Freund mitgegeben. Nachdem er wegen Ihnen die halbe Nacht im Krankenhaus verbracht hat, wollte ich es ihm nicht zumuten, sich heute Morgen auch noch nach einem anderen Mietwagen umzusehen.“
Ich wurde rot. „In Ordnung. Ich habe verstanden. Sie können mitfahren. Zumindest wenn mein Mitfahrer nichts dagegen hat. Und“, nun war ich an der Reihe, sie fest anzusehen, „im Gegensatz zu Ihnen wäre ich auch ohne Gegenleistung dazu bereit gewesen, Ihnen einen Gefallen zu tun.“
Lydia Sing entgegnete nichts. Doch an ihrem Gesichtsausdruck konnte ich sehen, dass ihr meine Erwiderung gefiel.
„Sie kommen mir bekannt vor?“ Lydia thronte neben Nils im Smart und ich hatte mich zusammen mit ihrem Gepäck auf die Rückbank gequetscht. „Sind wir uns schon einmal begegnet?“
„Nicht, dass ich wüsste“, antwortete Nils. „Wohnen Sie in München?“
„Nein, ich komme aus Rheinland-Pfalz. Aber ich kenne Sie. Ich bin mir ganz sicher.“ Auf einmal erhellte sich ihr Gesicht. „Ha! Sie sind dieser Schauspieler. Oder? Sie haben vor einigen Jahren in meiner Lieblings-Serie mitgespielt: Ganz in Weiß . Sie waren dieser nette Oberarzt.“
Nils nickte. „Dr. Wohlschläger.“
„Sie hätten fast Ihre Schwester geheiratet, wenn Sie nicht in letzter Sekunde herausgefunden hätten, dass Sie bei Ihrer Geburt vertauscht worden sind.“
Er verzog das Gesicht. „Stimmt!“
Lydia schien beeindruckt. „Wie aufregend! Ich fahre mit Dr. Wohlschläger zusammen in einem Auto.“
Ich rollte die Augen. Wenn sie ihn jetzt noch um ein Autogramm bäte, musste ich befürchten, in einer Zeitschleife gefangen zu sein. Doch zum Glück verschonte sie mich. Stattdessen erzählte sie Nils begeistert jedes biographische Detail, das ihr aus dem Leben von Dr. Johannes Wohlschläger in Erinnerung geblieben war: So war er zum Beispiel über die Sache mit seiner Schwester nur mit Hilfe von Drogen hinweggekommen, danach hatte er sich mit der intriganten rothaarigen Managerin des Krankenhauses eingelassen und anschließend war er nur knapp dem Tod entronnen, als er einen kleinen Jungen vor einem Kampfhund retten wollte. Doch auf einmal kam Lydia ins Stocken. Sie wurde bleich und griff sich an die Brust. Panisch schaute sie sich um.
„Geht es Ihnen nicht gut?“ Ich beugte mich nach vorne und wechselte mit Nils über den Rückspiegel einen besorgten Blick.
„Doch, doch. Es ist nichts“, keuchte sie. „Nur ein kleiner Schwächeanfall. Können Sie mir mein Spray aus der Handtasche geben?“ Ihre Hände verkrampften sich im Stoff ihrer dünnen Bluse.
Schnell öffnete ich Lydias Tasche und begann darin herumzukramen. Meine Güte! Diese Frau trug eine ganze Apotheke mit sich herum. „Wie sieht denn dieses Spray aus?“, fragte ich ängstlich.
„Rot, mit einem weißen Deckel.“ Lydias Haut wirkte nun fast durchscheinend, ihre Stimme war kaum noch ein Flüstern und sie rang nach Atem.
Hektisch schmiss ich mehrere Tablettenschachteln und Döschen auf die Rückbank. Ein Fläschchen Korodin, Lydias Geldbörse, das Schwarz-Weiß-Foto einer jungen Frau sowie ein ledernes Notizbuch folgten. Erst dann stieß ich auf die rot-weiße Spraydose. Zum Glück! Erleichtert drückte ich Lydia den kleinen Behälter in die Hand und
Weitere Kostenlose Bücher