Australien 02 - Der Sternenleser
nackt bleiben, damit mir schneller warm wird, weil man unbekleidet das Feuer besser spürt, als wenn es Kleider durchdringen muss .
So ausgeklügelt diese Interpretation von Tagarans Worten auch gewesen sein mochte, war sie doch nicht richtig. Gore bedeutete tatsächlich wärmen , aber goredyu konnte genauso gut ein ganz anderes Wort sein, ging Rooke nun auf.
Zwischen den Zeilen war noch Platz, um diesen Irrtum einzugestehen. Das stimmt nicht. Goredyu bedeutet etwas anderes. Gore, wärmen .
Er hatte sich eingebildet, klüger zu sein als Silk, der mit selbstgefälliger Naivität glaubte, dass es für jedes Wort in der anderen Sprache eines mit exakt derselben Bedeutung gab und man sie austauschen könne wie einen spanischen Dollar gegen zwei Schillinge und fünf Pence. Jetzt erkannte Rooke, dass er haargenau dasselbe gemacht hatte. Er hatte diese Verblisten angelegt, diese Alphabete und diese netzartig verknüpften Seiten: weitere Flexionsformen desselben Verbs .
Aber so ließ sich die Sprache von Sydney nicht erlernen. Sowohl die Sprache als auch das Erlernen hatten die Grenzen gesprengt, in die er beides hatte zwängen wollen. Der Beweis dafür war das, was er eben getan hatte. Der Druck des Unbekannten hatte ihn eine neue Sprache finden lassen, eine Sprache, die ihm sogar noch neuer war als die Sprache der Cadigal – die Sprache des Zweifels, die Sprache, die zu dem Eingeständnis bereit war: Ich bin mir nicht sicher .
Was ihn weder die lateinische noch die griechische Sprache gelehrt hatte, brachten ihm nun die Menschen aus New South Wales bei, und zwar Folgendes: Eine Sprache ließ sich nicht lernen, ohne dass man mit den Menschen, die sie sprachen, Beziehungen einging. Seine Freundschaft mit Tagaran bestand nicht aus einer Liste von Gegenständen oder Wörtern für Dinge, die man essen oder nicht essen, die man werfen oder nicht werfen konnte, sondern war durch den langsamen Aufbau einer zwischenmenschlichen Beziehung entstanden.
Um die Namen der Dinge wirklich verstehen zu können, waren nicht nur die Wörter wichtig, sondern auch das, was zwischen den Wörtern lag. Eine Sprache zu erlernen, bedeutete nicht, zwei beliebige Punkte durch eine Linie miteinander zu verbinden. Man musste in die andere Sprache hineinspringen.
Um die Bewegungen der Himmelskörper zu verstehen, musste man alles ignorieren, was man zu wissen glaubte. Wenn es einem nicht gelang, die eigene Welt von einem Punkt außerhalb dieser Erde zu betrachten, würde man niemals erkennen, wie alles zusammenhing.
In Tagarans Gesellschaft hatte Rooke einen flüchtigen Blick darauf erhascht, wie alles miteinander seinen Platz fand. Er befürchtete, dass es bei diesem flüchtigen Blick bleiben würde.
VIERTER TEIL
BETEILIGT
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D ann schleppte sich Brugden in die Siedlung, von einem Speer durchbohrt, der ihm anderthalb Fuß seitlich aus der Brust ragte. Rooke erfuhr davon, als der Botenjunge vom Regiment keuchend vor seiner Hütte stehen blieb.
»Sie haben den Wildhüter erwischt, Sir. Der ist erledigt.«
Er war so außer Atem, dass er kaum sprechen konnte. Aber gleichzeitig war er aufgeregt, wenn auch das Erledigtsein für diesen rotgesichtigen Jungen mit den glühenden Wangen nichts weiter war als ein Wort.
Wie betäubt nahm Rooke die Nachricht auf. Dabei überraschte ihn nur, dass er kaum überrascht war. Die Leere, die er in sich spürte, die Lücke an der Stelle, an der einmal Glückseligkeit gewesen war, verwandelte sich durch diese Nachricht in etwas Konkretes. Eine verzauberte Zeit, eine unwirkliche Zeit war für die Privatperson Rooke zu Ende gegangen. Da war es nicht verwunderlich, dass sie nun auch öffentlich zu Ende ging.
»Major Wyatt sagt …« Der Junge stockte und kniff die Augen zusammen, während er überlegte, wie die Botschaft gelautet hatte. »Er sagt, Leutnant Rooke möge heute Abend um sechs Uhr zur Kaserne kommen. Und seine besten Empfehlungen auch.«
Ich kann eine Krankheit vorschützen, dachte Rooke, kann dem Jungen sagen, dass Leutnant Rooke seine besten Empfehlungen schickt, aber leider unpässlich ist .
Einem Mann wie Major Wyatt konnte man jedoch nichts vormachen.
»Dies ist als Befehl aufzufassen, Sir, sagt der Major«, fuhr der Junge fort, »und Leutnant Rooke möge sich als anwesenheitspflichtig betrachten …« Mit weit aufgerissenem Mund stand der Junge da und überlegte, was der Major sonst noch gesagt hatte. »Ganz gleich, was auch sein mag, Sir. Das war im Wesentlichen, was er gesagt
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