Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Australien 02 - Der Sternenleser

Australien 02 - Der Sternenleser

Titel: Australien 02 - Der Sternenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Grenville
Vom Netzwerk:
Einmal hatte er Tagaran bis zu einem großen Felsen begleitet, von dem aus man zum Lager hinabschauen konnte: ein paar Rindendächer, eine kleine gerodete Fläche, ein Lagerfeuer. Tagaran hatte ihm klargemacht, dass er von dort aus nicht mehr weitergehen solle, und Rooke hatte es akzeptiert. Es würde noch genügend andere Tage, andere Gelegenheiten geben, hatte er gedacht.
    Als er nun neben dem Felsen stand, sah er, dass die Bucht verlassen war. Von dem Aschehügel auf dem freien Platz stieg kein Rauch auf. Die Hütten waren noch da, aber leer.
    Rooke spürte eine Leere in sich, so, als hätte er etwas verlegt, das er vielleicht nicht wiederfinden würde.
    Er setzte sich auf den Felsen, der die Grenze zwischen Tagarans und seiner Welt darstellte. Die Sonne stand schon so tief, dass die Bucht im Schatten lag. Auf dem schwarzen Wasser verschmolzen die düsteren Mangroven mit ihren Spiegelbildern. Die Sonne würde bald hinter dem Hügelkamm auf der anderen Seite der Bucht verschwinden. Die Erde drehte sich weiter, mitsamt dem Fünkchen Leben namens Daniel Rooke. Was immer auch hier unten zwischen den Felsen und den Bäumen geschah, wo die Menschen mit verwirrtem Geist durchs Leben stolperten, die Erde drehte sich weiter um sich selbst und zog weiter ihre riesige Bahn. Die Anziehungskraft der Sonne wirkte der Fliehkraft der Erde mit exakt der gleichen Stärke entgegen und verhinderte so, dass diese auf Nimmerwiedersehen ins Weltall enteilte. Ob der Mensch sie sah oder nicht, die Sonne strahlte ohne Unterlass, zog die Erde unaufhörlich an und hielt sie mit mächtiger Hand auf ihrer Bahn.
    Auf dem Wasser war eine Bewegung wahrzunehmen; zwei Enten schwammen von einem Punkt zu einem anderen. Irgendwo am jenseitigen Ufer stieß ein Vogel immer wieder den gleichen Laut aus – uik! uik! uik! –, ohne Unterbrechung, wie ein Mann beim Abzählen seiner durchs geöffnete Gatter drängenden Schafe. Im Zentrum der dunklen Bucht entstand auf der Wasseroberfläche eine kleine, ringförmige Vertiefung, die sich immer weiter nach außen hin vervielfachte, ein vollkommener Ring nach dem anderen.
    All das war für Rooke nichts als Oberfläche: Oberfläche ohne Bedeutung. Er hörte den Vogel und er sah die Ringe. Weiter nichts. Nicht mehr, als ein Hund wahrgenommen hätte.
    In Portsmouth hatte Rooke gewusst – so selbstverständlich, dass ihm gar nicht bewusst war, es irgendwann gelernt zu haben: Wenn die Platanenblätter gelb und ledrig wurden, würde es bald kalt sein. War der Mond von einem schillernden Hof umgeben, würde am nächsten Tag aufgewühltes Wasser vom Meer auf den Kiesstrand geschleudert. Mit der Tatsache über die Platanenblätter oder den Mond hingen anderen Tatsachen zusammen, in der Natur war alles in einem riesigen Netz der Logik miteinander verknüpft.
    In New South Wales konnte Rooke zwischen den Dingen keinen größeren Zusammenhang erkennen. Das machte das Leben hier seltsam ungeordnet und ermüdend, so, als bewegte man sich blind durch die Welt.
    Tagaran kannte die inneren Verbindungen dieser Landschaft so wie er die von Portsmouth. Sie würde dort vermutlich so blind sein wie er hier.
    Einmal hatte sie ihn gebeten, ihr von dem Ort zu erzählen, aus dem er stammte.
    »Ein Hafen wie dieser hier«, hatte er gesagt und mit der Hand hinuntergedeutet.
    Während er über das Wasser zum Land der Cammeragal hinübersah, hatte er sich vorstellen können, er blicke von Portsmouth Harbour nach Gosport.
    »Auf der anderen Seite der Bucht, schräg gegenüber, genau wie hier.«
    Tagaran hatte mit ernster Miene zugehört und in die Richtung geblickt, in die Rooke gedeutet hatte.
    Er erinnerte sich an den Jungen, der er in ihrem Alter gewesen war, und an die vielen Nachmittage, die er auf dem Kiesstrand unterhalb des Turms verbracht hatte. Obwohl er bis auf die Knochen durchgefroren war, hatte es ihm davor gegraut, zur Akademie zurückzukehren. Dieser Junge hatte von einem Neuanfang geträumt, einem Ort, an dem man bei Null beginnen konnte, ohne von all den früheren Fehlschlägen verfolgt zu werden. Alle Worte neu zu lernen, war Teil dieses Traums gewesen. Und nun, an dieser wilden Landspitze des allerfernsten Kontinents, war diese kindliche Sehnsucht Wirklichkeit geworden. Diese wundersame nackte Wiedergeburt versetzte ihn in Staunen.
    »Ein guter Ort«, hatte er zu Tagaran gesagt.
    Warum hatte er das gesagt, obwohl es doch gar nicht stimmte? So war das eben, wenn man lediglich ein paar Worte austauschen konnte. Für die

Weitere Kostenlose Bücher