Australien 02 - Der Sternenleser
Wahrheit brauchte man Hunderte von Worten oder gar keine.
Tagaran hatte genickt. Sie glaubte ihn zu verstehen, doch wie sollte das möglich sein? Er hatte gar nicht erst zu erklären versucht, wie es wirklich gewesen war, wie es war, wenn man sich unter seinen eigenen Leuten einsam fühlte.
Was mochte das für ein Gefühl sein, Tagaran zu sein? Barfuß und nackt durch die Wälder zu streifen, so ungezwungen, wie er es auf der Church Street getan hatte?
Rooke warf einen Blick hinter sich, musste aber feststellen, dass er allein auf dem Hügel war. Wie Hunger oder Durst überkam ihn auf einmal das unwiderstehliche Verlangen, seine Schuhe aufzuschnallen, die verschlissenen Socken auszuziehen und barfuß auf Tagarans Erde zu stehen. Seine Füße waren so weiß wie fette Raupen in modrigem Holz, sahen schwach und verletzlich aus. Rooke machte ein paar vorsichtige Schritte den Pfad entlang, dann stach ihn etwas so schmerzhaft in die Ferse, dass er nach Luft rang. Als er nachsah, was ihn gestochen hatte, stellte er fest, dass es nur ein winziger Zweig war, halb so groß wie ein Zahnstocher. Bedurfte es nur einer solchen Kleinigkeit, um ihn davon abzuhalten, mit Tagarans Füßen zu gehen?
Sein ganzes Leben lang war ihm seine eigene Gesellschaft lieber gewesen als die anderer Menschen. Doch jetzt fühlte er sich auf einmal unbehaglich, als wäre ihm zu warm oder zu kalt, als hätte er Hunger oder Durst. Aber nichts davon traf zu. Es lag daran, dass er sich nicht mehr selbst genügte. Von sämtlichen Menschen auf diesem sich drehenden Globus war da ein einziger, nach dessen Gesellschaft er sich sehnte.
Das war eine Lehre für einen Mann, der fast alles zu wissen geglaubt hatte.
Es war dumm von ihm gewesen, aus dem Pflichtbewusstsein eines Soldaten Seiner Majestät nicht nachgegeben zu haben. Er hätte die verdammte Kugel einfach abschießen und Tagaran daraus lernen lassen sollen, was immer sie daraus hatte lernen wollen.
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Zurück in seiner Hütte, nahm Rooke die Notizbücher heraus, die seine Gespräche mit Tagaran enthielten. Sie waren so klein, dass er sie mit einer Hand bedecken konnte. Schäbig und unscheinbar sahen sie aus, waren aber das Wertvollste, das er je besessen hatte.
Rooke rechnete nicht damit, dass Tagaran wiederkommen würde. Mehr als das, was auf diesen Seiten festgehalten war, würde er nicht von ihr bekommen.
Er schlug eines der beiden auf. Da war sein erster, im Überschwang geschriebener Eintrag: Marray – nass . Rooke erinnerte sich noch gut an das triumphierende Gefühl. So zufrieden war er mit sich gewesen, stellte er jetzt fest, dass er sogar einen Punkt dahinter gesetzt hatte.
Es erschütterte ihn, mit welcher Selbstsicherheit er diese Einträge gemacht hatte. Wie töricht dieses Triumphgefühl doch gewesen war, wie fehl am Platz der Dogmatismus dieses Punktes. Marray . Ja, es könnte nass bedeutet haben. Es könnte aber auch Regentropfen oder auf deiner Hand bedeutet haben. Auch schmutzig oder Schlamm könnte es bedeutet haben, weil die Tropfen den Staub auf seiner Hand in Schlamm verwandelt hatten. Es könnte auch rosa bedeutet haben, die Farbe seines Handtellers, oder Haut oder verschlungene Herzlinie, Kleiner , wie es die Zigeunerin auf dem Portsea-Jahrmarkt einmal zu ihm gesagt hatte.
Doch so wie es hier stand, mit dem kleinen Punkt dahinter, war jeglicher Zweifel ausgeschlossen. Die Bedeutung würde nie mehr in Frage gestellt. Was ihn wie Wissenschaft gedünkt hatte, war in Wirklichkeit reine Spekulation gewesen, Spekulation der schlimmsten Art, nämlich eine, bei der man vergisst, dass es nur eine Vermutung ist.
Und natürlich wusste er inzwischen, dass marray nicht nass bedeutete, sondern ein Verstärkungswort war, so etwas Ähnliches wie sehr .
Als der Junge an jenem ersten Tag weggerannt war, hatte Tagaran yennarrabe gesagt, und Rooke war sich sicher gewesen, dass es nur bedeuten konnte: Er ist fort . Jetzt ging ihm auf, dass er zu voreilig gewesen war. Er nahm seine Feder, tauchte sie in die Tinte, machte aus dem Punkt ein Komma und fügte hinzu: die englische Entsprechung ist noch nicht ganz geklärt .
Er blätterte weiter bis zu dem langen Eintrag, den Silk gelesen hatte, und durchlebte noch einmal die ganze Pein. Goredyu tagarin , ich mehr (d. h. ich nehme mehr) von Kälte, d. h. die Kälte wegnehmen. Als Tagaran dies sagte, stand sie nackt vor dem Feuer, und ich wollte, dass sie etwas anzog, worauf sie sagte, Goredyu tagarin, was genau bedeutet, ich will länger
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