Australien 03 - Tal der Sehnsucht
Hand auf seinen Arm und machte einen Schritt auf ihn zu. Er sah gleichzeitig wunderschön und verletzlich aus.
»Nicht, Rose … mach es mir nicht noch schwerer.«
»Wo willst du hin?«
»Ich habe dir doch gesagt, dass ich Pläne habe. Und ich habe Freunde. Kumpel, mit denen ich auf der Schule war.«
»Aber du kannst mich nicht allein lassen!« Rosie hörte die Hysterie in ihrer Stimme. »Nicht jetzt!«
»Du brauchst mich nicht. Du schaffst das auch ohne mich. Es wird Zeit, dass ich endlich anfange, meine Träume wahr werden zu lassen. Scheiß doch drauf, was Dad sagt. Oder was die Leute sagen. Ich lasse mir keine Angst mehr einjagen. Rose … und du solltest das auch nicht. Dafür ist das Leben zu kurz. Das hat mir Sams Tod gezeigt.«
Julian schloss sie in die Arme, und Rosie spürte die Wärme seines muskulösen, knochigen Körpers. Sie atmete seinen Duft ein. Es war ein ungewohntes Gefühl, ihn so fest zu umarmen. In ihrer Familie gab es so gut wie keine körperlichen Kontakte.
»Ich weiß, dass du zurechtkommen wirst, Rosie. Und wir bleiben in Verbindung, versprochen. Du schaffst das schon. Vertrau mir.«
Sie nickte traurig und zog ihn zu einer letzten Umarmung an ihre Brust.
Dann war er fort. Rosie schaute den Heckleuchten seines Pickups nach, bis sie verschwunden waren.
Als Rosie den Pajero in der Garage parkte, hörte sie aus dem Scherstall das Schnurren einer Schermaschine. Im Hof liefen ein paar geschorene Lämmer herum. Wen hatte Gerald so kurzfristig zum Scheren gefunden? Die Stirn in Falten gelegt, ging sie zum Scherstall. Drinnen, am anderen Ende der langen Reihe von Schurständen, stand Gerald über ein Merino-Hammellamm gebeugt. Schweiß tropfte von seiner Stirn in die Wolle, und sein Gesicht war knallrot. Ein hinter ihm stehender Ventilator pustete die abgeschorene Wolle an die Fangwände, wo sie sich in einem Haufen ablagerte wie Schaum, den die Wellen am Strand zurücklassen. Der gesamte Schurstand, auf dem Gerald unter der Schermaschine stand, war mit köttelverklebten Flusen und verfilzter und fleckiger Bauchwolle bedeckt.
»Dad?« Rosie verzog das Gesicht. Sollte sie ihn überhaupt noch so nennen? Plötzlich wurde ihr alles zu viel, und sie schloss die Augen.
Gerald sah auf, schaltete die Maschine aber nicht aus. Stattdessen schor er die letzten Streifen ab. Anschließend ließ er das Lamm wieder auf die Hufe kommen, das sofort aus der Luke in den Pferch eilte, um sich zu der restlichen geschorenen Herde zu gesellen. Gerald richtete sich auf und wischte sich mit einem Tuch den Schweiß vom Gesicht. Plötzlich begriff Rosie, dass er auch Tränen von seinen Wangen wischte. Sie fragte sich, wie Julian ihm wohl beigebracht hatte, dass er wegging. Hatten sich die beiden gestritten? Oder hatte sich Julian in aller Stille verabschiedet? Plötzlich tat Gerald ihr Leid. Er hatte alles auf Julian gesetzt, sein Sohn hatte für ihn die Zukunft der Farm verkörpert. Und nun war er fort.
»Kann ich helfen?« Gerald antwortete nicht. Stattdessen verschwand er durch die Tür zum Pferch, warf das nächste Schaf zu Boden und schleifte es zum Schurstand. Rosie nahm sich einen Besen und begann zu fegen. Auf Geralds Gesicht zuckte Ärger auf.
»Kehr nicht alles auf einen Haufen, Weib«, fuhr er sie ungeduldig an. Er beförderte das Lamm in den Pferch zurück und nahm ihr den Besen ab.
»Schau zu. Die fleckige Wolle kommt auf einen Haufen. Die Köttel kommen auf einen anderen. Die Wolle vom Kopf und die saubere Rückenwolle kommt in die Tonne, und die Bauchwolle kommt in diese Ecke hier.« Beim Reden hob Gerald jeweils die entsprechende Wollsorte hoch. Rosie nickte ernst und konzentrierte sich ganz aufs Sortieren und Kehren. Schweigend arbeiteten sie nebeneinander her. In Rosies Kopf überschlugen sich die Gedanken. Warum war Julian weggegangen, und wie würde ihre Mutter wohl darauf reagieren? Wie musste Gerald unter der Last der Verzweiflung leiden? Aber gleichzeitig arbeitete sie unermüdlich weiter, immer schneller werdend, sodass der Arbeitsbereich bald sauber war und sie die Wolle in lockerem Rhythmus sortieren konnte. Sie bemerkte, wie Gerald sich stöhnend mit jedem Schaf abmühte. Sie hatte ihn kaum je bei einer körperlichen Arbeit gesehen und sah ihm an, wie sehr er sich anstrengen musste. Kaum dass der Pferch leer war und er sich im Aufrichten das Gesicht abwischte, baute er sich zu voller Größe auf und verschwand dann zu den Pferchen hinter dem Stall, um noch mehr Schafe zum Scheren zu
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