Australien 04 - Wo wilde Flammen tanzen
nach ihr ausgestreckt. Sobald die Handfläche der Alten auf ihrem nackten Unterarm zu liegen kam, spürte Cassy, wie ein Kribbeln ihre Haut überlief, und im nächsten Moment begann sie zu weinen. Sie heulte wie ein Baby. Widerstandslos ließ sie sich von Evie in den Arm nehmen und zur Couch führen. Evie reichte ihr ein Taschentuch und saß still da, während es aus Cassy heraussprudelte.
Jahrelang unter Verschluss gehaltener Schmerz brach aus ihr heraus. Wie ihr Vater sie verlassen hatte, wie ihre Mutter sie manipuliert und in jedem neuen Lebensabschnitt ihre Liebe zu erkaufen versucht hatte, wie sie schon als kleines Mädchen das geballte Übel der Welt auf ihren Schultern gespürt hatte. Mit einem Mal erkannte Cassy, dass es vor allem die Reinheit von Lukes Geist und seine Offenheit gewesen waren, die sie so in Bann gezogen hatten. Plötzlich begriff sie, dass er sie nicht liebte. Und vor allem begriff sie, dass sie ihn nicht liebte. Sie hatte allein die Vorstellung geliebt, dass sie von ihm umsorgt wurde. Diese schlichte Tatsache hatte gereicht, dass sie sich weniger unter Druck und weniger ängstlich gefühlt hatte. Weniger hasserfüllt und hoffnungslos. Das Taschentuch fest umklammernd beobachtete Cassy, wie Evie die Augen schloss. Die Lider der alten Frau begannen zu flattern, und sie holte schnaufend durch die Nase Luft.
»Gott sagt, du wirst geliebt.« Diese Feststellung löste eine neuerliche Tränenflut aus. »Außerdem sagt er, du solltest das alles mit Humor nehmen.«
Cassy sah Evie an und hätte ihr am liebsten eine geknallt, doch irgendwie spürte sie, dass die Alte etwas Seriöses an sich hatte. Sie schien mit irgendetwas in Verbindung zu stehen. Obwohl Cassy keine Ahnung hatte, was das sein sollte. An Gott glaubte sie ganz bestimmt nicht. Sie sah zu der weiß lackierten Kassettendecke auf. Allmählich wurde ihr die Sache unheimlich.
»Du hast nichts zu befürchten«, erklärte ihr Evie mit eigenartig veränderter Stimme. Dann blieb sie so lange still, dass sich Cassy zu fragen begann, ob die sogenannte »Heilung« abgeschlossen war. Doch dann begann Evie wieder zu sprechen.
»Gott zeigt mir verletzte Wildtiere. Verbrannte Wildtiere. Du bist auch dort. Mitten unter ihnen, um sie zu pflegen.«
»Wildtiere?«, fragte Cassy nach. Eigentlich hatte sie nie viel mit Tieren zu tun gehabt, wenn man einmal davon absah, dass sie sich bei einigen Demonstrationen als Tier verkleidet hatte.
»Gott sagt, dein Weg führt zu den Tieren.«
»Den Tieren? Aber was ist mit Luke?«
Sie sah, wie Evies Augen hinter den geschlossenen Lidern hin- und herzuckten, als würden sie blitzschnell etwas ablesen.
»Gott sagt, ich bin keine Hellseherin. Und dass du dir eine Zeitschrift kaufen sollst, wenn du ein Horoskop haben willst.« Evie lachte laut auf, ohne dass sich dabei ihre Augen öffneten. »Oh, er kann ein richtiger Witzbold sein, dieser Gott!«
Cassy stand auf. »Sie wollen mich nur verarschen. Das ist doch alles gequirlte Kacke. Ich fasse es nicht, dass ich Ihnen auf den Leim gegangen bin.«
Doch Evie reagierte nicht. Sie saß immer noch mit geschlossenen Augen da. »Gott sagt, du sollst deinen Humor nicht verlieren. Er sagt, du wirst auf dieser Welt noch Gutes bewirken, aber du gehörst nicht an diesen Ort. Lukes Seele ist mit einer anderen verbunden.«
Wieder spürte Cassy, wie die Emotionen sie zu überwältigen drohten und ihr die Tränen in die Augen schossen. Diese Frau hatte recht. Was zum Teufel hatte sie hier verloren? Seit Monaten trauerte sie Luke nun schon nach, der seinerseits versucht hatte, sich ganz unauffällig von ihr zu lösen und sich zu befreien. Sie schloss die Lider. Als Cassy sie wieder aufschlug, waren Evies bohrende grüne Augen auf sie gerichtet.
»Okay?«, fragte sie freundlich. Cassy nickte. Evie gab ihr noch ein Glas Wasser und brachte sie dann ohne ein weiteres Wort an die Tür.
»Fahr vorsichtig«, sagte sie.
Aus einem Impuls heraus schloss Cassy die alte Frau kurz in die Arme und dankte ihr. Dann stieg sie in ihr Auto und fuhr nach Melbourne, wie neu belebt und mit neuer Kraft ausgestattet. Sie hatte nach dem Weg gefragt, und den hatte Evie ihr eindeutig gezeigt! Wildtiere. Sie würde verletzte Tiere pflegen, und sie würde schon in diesem Sommer damit anfangen. Sie quietschte begeistert und drehte die Weltmusik- CD lauter.
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Während der folgenden Woche wusste Emily nie genau, ob es die für die Jahreszeit untypische Hitze oder die Liebe war, die ihr alle Energien
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