Australien 04 - Wo wilde Flammen tanzen
spielen hören. Sam war das bestimmt nicht. Hier gab es kein Radio. Und keinen Strom, um eines laufen zu lassen. Bevor sie es mit der Angst bekommen konnte, stand sie auf und spürte das kalte Linoleum unter ihren nackten Füßen. Sie zündete ein Streichholz an, und aus dem Fitzelchen von Kerze, das noch übrig war, züngelte eine jämmerliche Flamme. Sie schlich auf Zehenspitzen durch den Gang und drückte sacht die Tür zu Sams Zimmer auf. Gerade als die Kerze blakend erlosch, sah sie ihn tief und fest unter den alten grauen Wolldecken schlafen.
Immer noch hörte Emily die Musik spielen. Die Fingerspitzen ihrer unverletzten Hand gegen den unregelmäßigen Rosshaarputz gestemmt, tastete sie sich durch den Flur bis zur Küche vor, wo immer noch die Glut glomm. Hier war die Musik deutlicher zu hören. Emily hörte ein altes Akkordeon und dazu Stimmen, die in die Melodie einstimmten. Es waren Männer- und Frauenstimmen, und sie sangen ein Kirchenlied. Als sie durch die Küche in das alte Speisezimmer weiterging, sah sie mehrere wettergegerbte Arbeiter in ihrem abgetragenen Sonntagsstaat darin sitzen. Emily blieb in der Tür stehen und hielt den Atem an.
Den Blick fest auf ihre ledergebundenen Gesangsbücher gerichtet, standen sie vor provisorischen Kirchenbänken, die aus einigen auf Ziegeln liegenden Brettern bestanden. Ganz vorn stand ein gut aussehender, junger Priester mit zurückgekämmtem und streng gescheiteltem dunklem Haar. Er trug einen Anzug mit Weste, und sein strahlend weißer Priesterkragen fing das Licht der Öllampen ein. War das vielleicht Archie, der Sohn der Flanaghans, der irgendwann sein Priesterseminar verlassen hatte und in die Berge zurückgekehrt war, um hier mit seiner jungen Braut Joan Gemeindearbeit zu leisten? Emily sah sich um. Neben den Erwachsenen saß eine Schar Kinder in allen Altersstufen – Flanaghans, wie Emily instinktiv wusste, denn neben ihnen standen die beiden Menschen, die sie in ihrer ersten Vision der Hütte in Mayford gesehen hatte: Emily und Jeremiah. Gemeinsam mit einer derb aussehenden Gruppe von Minenarbeitern sangen sie Dankeslieder an Gott.
Ohne jede Angst trat Emily in den Raum, um sich zu der Gruppe zu stellen. Als sie es tat, blickte die Frau mit dem ergrauenden Haar auf. Sie legte den Kopf schief und lächelte Emily sanft an. Emily lächelte ebenfalls. Dann stimmte sie in das Kirchenlied ein, denn die ihr unbekannten Worte waren ihr seltsam vertraut.
»Emily! Emily!«, hörte sie eine Stimme aus der Dunkelheit, dann drückten zwei Hände auf ihren Arm. Sie wachte auf und sah Sam über ihr stehen. Sein Gesicht wurde vom Schein einer kleinen Kerosinlampe erhellt.
»Was ist denn?« Sie stützte sich auf ihren gesunden Ellbogen.
»Du hast mich aufgeweckt.«
»Aber ich war im Esszimmer …«
»Was? Nein, warst du nicht! Du warst hier im Bett und hast im Schlaf geredet. Naja, eigentlich nicht direkt geredet … Du hast gesungen. Glaub mir, ich bin in dieser Familie der Sänger. Es hat geklungen, als würde jemand eine Katze ertränken.«
Er leuchtete sie mit der Lampe an. »O Mann, was hast du da an? Du siehst aus wie Julie Andrews in Meine Lieder, meine Träume, verdammt noch mal!«
»Ein Nachthemd. Von Nan.«
»Ein echter Lustkiller, wenn du mich fragst. Ein Wunder, dass sie überhaupt Nachkommen hatte.«
»Krieg dich wieder ein«, sagte Emily. »Außerdem singe ich gar nicht so schlecht. Und was sollte ich hier mit meinen Gelüsten anfangen?«
»Du bist also okay? Du brauchst keine Schmerztabletten?«
»Warum fragst du das immerzu? Es geht mir gut, ehrlich. Ich schätze, in Wahrheit brauchst du die Pillen. Bist du abhängig oder so?«
»Nö«, antwortete Sam sofort, aber Emily spürte einen Stich der Angst um ihren Bruder, der es in letzter Zeit offensichtlich ziemlich wild getrieben hatte.
»Mach mir bloß nicht den Heath Ledger, Kumpel«, sagte sie.
Sam blickte ins dunkle Zimmer, und der Schein der Lampe spiegelte sich in seinen großen, blaugrünen Augen. Er antwortete nicht. Stattdessen drehte er sich um und sagte: »Er hat dir wirklich wehgetan, stimmt’s?«
Sie merkte, wie die nicht vergossenen Tränen zu brennen begannen. »Aber ich habe es auch zugelassen. Es ist nicht allein Clancys Schuld. Ich habe mich nicht dagegen gewehrt …« Ihre Stimme versagte.
»Wir kriegen das schon wieder hin. Und zwar alle beide«, sagte ihr Bruder, aber sie hörte den Zweifel in seiner Stimme.
Sie wusste, dass Sam sich wirklich abgerackert hatte, seit
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