Australien 04 - Wo wilde Flammen tanzen
seine Berge getrauert. Um das einfache Leben, das seine Enkelin nicht mehr führen konnte, um ihre Abgeschiedenheit und ihre Freiheit.
Emily strich mit dem Finger über zwei Morgenmäntel aus grober Wolle – den braunkarierten ihres Großvaters und den hellblauen ihrer Großmutter. Sie sah ihre Großeltern vor Sonnenanbruch Hammelkoteletts in der Pfanne braten, während auf dem Tisch eine Kanne Tee unter einer wollenen braun-gelben Teemütze wartete, die heute noch benutzt wurde.
Ganz hinten im Schrank fand sie ein Nachthemd, an das sie sich nicht mehr erinnern konnte. Es war lang und weiß, und der tiefe Ausschnitt war kunstvoll mit blauen Blumen und winzigen Knöpfchen bestickt. Die langen Ärmel endeten in dünnen Spitzen. Emily lächelte. Das Nachthemd war unglaublich altmodisch, verglichen mit den durchsichtigen Negligées, die sie immer für Clancy anziehen sollte. Je wütender er über ihre gemütlichen Frotteeschlafanzüge geschimpft hatte, desto standhafter hatte sie sich geweigert, sie auszuziehen. Nur wenn er unterwegs war, war sie selig nackt ins Bett geschlüpft und hatte das sinnliche Streicheln der Decke auf ihrer Haut genossen.
Sie zog das Nachthemd von seinem Bügel, der mit denselben winzigen Blumen bestickt war, und beschloss, es anzuziehen. Langsam und unter Schmerzen streifte sie es über und starrte dann ihr geisterhaftes Spiegelbild an. Die Kerze leuchtete so schwach, dass ihre Beine und Füße in der Dunkelheit verschwanden.
»Verfluchte Jeanne d’Arc!« Emilys Blick wanderte über ihre abgehackten schwarzen Haare, über die tiefen Höhlen, in denen ihre Augen lagen, und das cremefarben schimmernde Nachthemd. Sie schnüffelte an den Ärmeln, roch aber nur Mottenkugeln – der Duft ihrer Großmutter war längst verflogen. Wieder sah sie in den Spiegel, drehte sich dabei langsam im Kreis und stellte sich vor, eine altmodische Heldin zu sein.
Zuletzt schlüpfte sie unter die eiskalte Decke, erleichtert, das Krankenhaus verlassen zu haben, und merkwürdig glücklich, »auf der Flucht« zu sein. Eine Weile lag sie still da, drehte das Krankenhausarmband um ihr Handgelenk und schaute auf das verschnörkelte gusseiserne Gestell des alten Doppelbettes. Statt an die Schmerzen zu denken, die sie immer noch peinigten, dachte sie an ihre Großeltern. Geleitet von Gott und Mutter Natur und den Geistern des Landes hatten sie ausschließlich von dem gelebt, was der Boden abwarf. Sie dachte daran, wie einfach ihr Leben gewesen war und welches Glück sie immer ausgestrahlt hatten. Sie hatte das damals als Kind gespürt, und sie war überzeugt, denselben Charakterzug in ihren Mädchen, vor allem in der kleinen Meg wiederzufinden. Wenn die Kleine ihre Hände auf die Haut ihrer Mutter legte, spürte Emily etwas Besonderes in ihrer Berührung. Meg war ein eigenwilliges Kind, das sich gern von den anderen Kindern absonderte und für sich allein spielte, wobei sie mit imaginären Freundinnen Gespräche führte, die nur für sie existierten. Tilly war längst nicht so verträumt und kam dafür besser mit den praktischen Seiten des Lebens zurecht. Im Krankenhaus war es Tilly gewesen, die ihrer Mutter Wasser geholt und die Kissen aufgeschüttelt und das Laken straff gezogen hatte, während Meg still dagesessen und ihre kleinen warmen Hände auf Emily gelegt hatte, als wollte sie ihre Mutter heilen. Jetzt, im Dunklen, sehnte sich Emily nach ihren beiden Mädchen.
»Gute Nacht, Tilly und Meg«, flüsterte sie in das leere Zimmer hinein und beschwor das Bild herauf, wie sie friedlich in Rods Haus in ihrem alten Kinderzimmer schliefen. Bevor sie einschlummerte, dachte sie noch einmal an ihren Traum, die Mädchen hier heraufzubringen, um hier zu leben, und zwar auch den Winter über. War das möglich? Selbst die Flanaghans vor drei Generationen hatten sich in ihr Winterhaus im Tal bei Mayford zurückgezogen, wenn sich der Schnee in einer dicken, blendend weißen Decke über die Berge gelegt hatte. War sie stark genug, um einen Winter hier oben zu überstehen?
»Emily«, hörte sie ein Flüstern.
Im Schlaf runzelte sie die Stirn und wälzte sich herum.
»Emily.«
Wieder diese Stimme … Emilys Augen flogen auf. Sie setzte sich im stockfinsteren Zimmer auf. Der Kerzenstummel war ausgegangen. Der Mond hatte sich hinter die Baumwipfel verzogen; das Licht, das er durch die alten Spitzenvorhänge geworfen hatte, war erloschen.
Ein schwaches, geisterhaftes Licht trieb vom Flur herein, und sie konnte leise Musik
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