Australien 04 - Wo wilde Flammen tanzen
unausgesetzt über sie ärgerte. Für ihn gab es nur eines, was ihn noch mehr reizte als Evie, und das war ihr stämmiger kleiner Jack Russell. Immer wenn Jesus Christus vorbeihoppelte, bleckte Sam die Zähne und knurrte den Hund an, der daraufhin ebenfalls die Zähne bleckte und zurückknurrte. Aber gleichzeitig verrieten Sams ständige Sticheleien gegen Evie und ihren Hund eine heimliche Sympathie. Emily erkannte, dass ihr Bruder einen langsamen Lernprozess durchmachte und sich ebenfalls veränderte, ohne dass er es mitbekam.
Sie sah auch, dass ihre Mädchen viel von Evie lernten, und Emily hatte das Gefühl, dass sie anders als während der einsamen Zeit in Brigalow bei der Erziehung massiv unterstützt wurde. Manchmal nahm Evie die beiden mit in ihre Berghütte, dann spielten sie dort im Garten, erfuhren alles über die Pflanzen und darüber, wie die Kraft des Mondes die Wurzeln in den Boden und die Blätter himmelwärts zog, je nachdem, ob er ab- oder zunahm. Nachts bekamen sie die Sternbilder gezeigt. Emily kannte schon viele Pflanzen, doch Evie kannte viel mehr als sie. Sie kannte ihre lateinischen Bezeichnungen und die Namen, die die Aborigines ihnen gegeben hatten, und sie wusste, ob sie gute Futterpflanzen oder Heilpflanzen waren.
Obwohl sie sich nicht mit Pferden auskannte, ging sie regelmäßig in den Stall und behandelte Snowgums Verletzungen mit Kräutern und Manukahonig. Die Stute ließ sich noch nicht wieder reiten, denn die Wunden lagen genau dort, wo der Gurt einschnitt, aber Tilly und Meg führten sie jeden Tag aus dem Stall, damit sie auf den frischen Bergwiesen weiden konnte. Eines Tages hatte Emily beobachtet, wie Meg mit geschlossenen Augen neben der Stute gestanden und die Hände über Snowgums Wunden gehalten hatte.
»Was machst du da, Meggy?«
»Reiki«, hatte die Vierjährige ganz selbstverständlich geantwortet. »Universelle Heilung. Evie hat mir gezeigt, wie das geht.«
»Meg hat das auch bei mir probiert, Mum«, sagte Tilly. »Als ich vom Baum gefallen bin. Aber es hat trotzdem wehgetan.«
Emily hatte über die Mädchen und die Veränderungen, die sie durchgemacht hatten, gelacht. Tilly quengelte immer noch ab und zu, dass ihr der Fernseher fehlte, aber Emily sah dem Kind, das sich früher regelmäßig in Wutausbrüche gesteigert hatte, an, dass es viel ruhiger geworden war, seit es Clancys unvorhersehbaren Tobsuchtsanfällen und den hitzigen Wortwechseln ihrer Eltern entkommen war. Inzwischen ritten beide Mädchen täglich mit ihren Ponys aus, striegelten und sattelten sie selbst oder verbrachten Stunden damit, auf ihren ungesattelten Rücken zu sitzen und zu plaudern, während die Tiere grasten. Meg, die ohnehin in ihrer eigenen Welt lebte, ließ mittlerweile ihre Schwester an ihren Tagträumen teilhaben, und die beiden schienen sich näher zu stehen als je zuvor. Tilly, die in Brigalow freiwillig nicht einmal in den Garten gegangen war, kam jetzt kaum noch zum Essen ins Haus.
Wenn die Mädchen über ihren Vater sprachen, dann meistens am Abend.
»Wann können wir ihn sehen?«, hatte Tilly sich am Vorabend erkundigt.
»Bald«, hatte Emily geantwortet und ihr übers Haar gestrichen. In Wahrheit wusste sie es nicht.
Clancy hatte noch einmal angerufen, doch da hatte Emily geschlafen, und Evie hatte den Anruf entgegengenommen. Seither hatte er sich nicht mehr gemeldet. Wenn Emily in Brigalow anrief, meldete sich niemand. Sie hatte es auf seinem Handy probiert, doch das war abgeschaltet. Offenbar hatte er sie alle aus seiner Welt verbannt.
»Er fehlt mir«, hatte Tilly ihr gestanden, die immer noch nicht verstand, warum er nicht bei ihnen war.
»Ich weiß. Wir probieren morgen früh noch mal, bei ihm anzurufen.«
»Warum lässt du mich nicht zu ihm?«
Emily hatte ihre Tochter ernst angesehen und ihr das struppige Haar aus der hohen Stirn gestrichen. »Ich würde dich schon zu ihm lassen . Aber er ist nicht zu Hause!« Sie gab sich Mühe, nicht allzu verärgert zu klingen.
»Warum?«
»Das weiß ich nicht, mein Schatz. Mamis haben leider nicht auf alles eine Antwort. Es tut mir leid.«
Dann hatte sie ihren Mädchen einen Gutenachtkuss gegeben. Sie war stinkwütend auf Clancy, der so wenig Einfühlungsvermögen seinen Mädchen gegenüber zeigte, aber sie haderte auch mit sich selbst, weil sie ihre Kinder in diese Situation gebracht hatte. Hätte sie um ihretwillen bei Clancy bleiben und ihre Ehe einfach ertragen sollen, wie es so viele Frauen taten? Manchmal lag sie nachts
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