Ausweichmanöver (German Edition)
Valentins Stimme, ganz leise.
„Philip ist tot, oder?“
Lars wollte das nicht hören, schüttelte den Kopf. Dann tauchte Michelles lebloser Körper in Gordons Armen vor seinem geistigen Auge auf, und er flüsterte: „Michelle auch.“
Valentin begann zu weinen. Seine Schultern zuckten noch, als die beiden Sanitäter ihn zum Notarztwagen führten.
Lars blieb einfach sitzen. Wenn jemand ihn fragte, ob er verletzt war, verneinte er.
Frau Stellmacher kniete sich neben ihn. „Kann ich was für dich tun?“
„Nein, danke. Ich will nur hier sitzen, mir geht’s gut.“
Sie nickte. „Deine Schwester ist in der Turnhalle. Da gibt es Kakao.“
Lars erschrak. Er hatte Nora vergessen. Dabei hatte er seinem Vater versprochen, auf sie aufzupassen. Er stand auf. „Ich gehe zu ihr.“
„Das ist gut.“ Frau Stellmacher rappelte sich auch wieder auf. Lars beachtete nicht, wohin sie ging.
Er beobachtete, dass Heckmann mit einem Mann in einer Lederjacke und einem Schwarzen sprach. Den Schwarzen kannte er. Jeder kannte Kofi Kayi. Musterschüler des Campe. Sensationeller Abi-Durchschnitt, obwohl er als dreijähriger Flüchtling aus Togo gekommen war und kein Wort Deutsch konnte. Sein Foto hing in der Eingangshalle. Auch die Polizeiakademie hatte er mit Bravour durchlaufen, und nun kehrte er ans Campe zurück, um einen verrückt gewordenen Schüler einzufangen.
Nein, keinen Schüler. Nicht Timo.
Ob Kofi so einen wie Heckmann in Mathe gehabt hatte? Dann wüsste er Bescheid. Könnte verstehen? Verstehen? Was denn?
Timo war’s nicht. Punkt.
Aber wer dann?
Er musste mit Timo sprechen. Ihn warnen. Lars zog das Handy aus der Hosentasche.
Die beiden Polizisten kamen auf ihn zu.
Nicht hier.
Er stand auf und ging davon, durchs Hauptgebäude, über den Parkplatz. Verfolgten sie ihn? Er sah niemanden. Schnell über die Straße, auf den Parkplatz vom Supermarkt.
Er wählte Timos Nummer. Nichts.
Er versuchte, Julia zu erreichen. Nur die Bandansage.
Mist. Mist. Mist.
14
Endlich hatte ich Frau Stellmacher wiedergefunden. Sie sprach mit einem Elternpaar, begleitete es in die Turnhalle.
„Frau Stellmacher! Kann ich Sie kurz sprechen?“
Sie drehte sich um, erkannte mich und nickte. Sie legte dem Vater tröstend die Hand auf den Unterarm und wies ihm den Weg. Dann kam sie zu mir.
Sie stemmte die Fäuste in die Hüften. „Haben Sie den Kerl?“
„Nein, er ist entkommen. Darf ich Ihr Büro benutzen, um ein paar Gespräche zu führen?“
„Selbstverständlich.“ Sie zögerte einen Moment. „Wenn Sie Schüler verhören, wäre ich gern dabei, jedenfalls wenn deren Eltern nicht anwesend sind.“
Was versprach sie sich davon? Ach, egal, Hauptsache, wir kamen voran.
Kofi kam auf uns zu. „Stefan, wir haben alles unter Kontrolle. Die meisten Schüler wurden abgeholt. Das Kriseninterventionsteam betreut die anderen. Die Eltern haben Infozettel bekommen, wie sie sich verhalten sollen. DRK und THW bieten Gesprächszeiten an.“
Ich fragte: „Die Waffe?“
„Das Gewehr, das dem Förster gehört hatte.“
Verdammt. Also hatte doch jemand ganz gezielt Waffen gestohlen.
„Das muss gar nichts heißen.“
„Ich wünschte, du hättest recht. Die Schulleiterin, Frau Stellmacher, kennst du?“ Ich zeigte mit der Hand auf sie.
„Nein, ich hatte noch nicht das Vergnügen.“
Sie verzog das Gesicht. „Vergnügen, pah, ich bitte Sie. Ihr Foto hängt in der Halle, nicht wahr? Fangen Sie den Täter. Vergnügen!“ Sie rauschte davon.
Kofi sah mich fragend an. „Ein bisschen durch den Wind, die Gute.“
„Kofi!“
„Schon gut, ich versteh’s ja. Aber …“
Er brach ab.
„Mann, so was hier, in meiner Schule. In Holzminden. Kacke elende.“ Er rieb sich die Augen.
Ich verstand ihn nur zu gut. Es half, alles ins Lächerliche zu ziehen, die böse Welt nicht an sich heranzulassen.
Uns war ja nichts geschehen. Die Verluste anderer gingen mich nichts an.
Sofort tauchte das Bild des jungen Mannes in meinen Gedanken auf, der seine Freundin in den Armen hielt, seine tote Freundin. Erschossen von einem Mitschüler? Der einen Privatkrieg gegen einen Lehrer führte? Quasi als Kollateralschaden?
Ein totes Mädchen.
Lange, dunkle Haare wehen im Wind.
Elke in dem Kettenkarussell, lachend.
Der Schreck in ihren Augen, der Schrei und dann das Blut in ihrem Haar.
Ich atmete tief durch. Nicht jetzt. Blindlings folgte ich der Direktorin in ihr Büro. Über die Schulter hinweg bat ich Kofi: „Such diesen Lehrer, diesen
Weitere Kostenlose Bücher