Ausweichmanöver (German Edition)
aktivierte ihren PC, klickte sich durch ein paar Ordner und öffnete schließlich ein Foto. Jemand saß mit blankem Hintern so auf ihrem Schreibtisch, dass man genau erkennen konnte, wo er sich befand, aber nicht, um wen es sich handelte.
„Timo?“
„Sicher.“
„Was hat er gestohlen?“
„Nichts. Weder hier noch im Lehrerzimmer. Er hat nur das Foto auf meinem Desktop hinterlegt, hat keinerlei Schäden angerichtet.“ Als Heckmann hinter mir auftauchte, schloss sie das Foto, so dass er es nicht sehen konnte.
„Was haben Sie gemacht? Anzeige erstattet?“
Sie sah mich erbost an. „Natürlich nicht. Nach diesem, hm, Vorfall, musste mein Büro ganz besonders sorgfältig renoviert und gereinigt werden, das versteht sich doch von selbst, oder?“
„Wenn Sie es sagen.“
„Er hatte die ganzen Osterferien Zeit.“
„Hat er alles allein gemacht?“
„Da müssen Sie den Hausmeister fragen. Mich hat nur das Ergebnis interessiert.“
„Haben Sie auch richtige Fotos von ihm und seiner Freundin?“
„Wir machen jedes Jahr Klassenfotos. Ich suche Ihnen eines heraus und drucke es aus.“ Sie zögerte. „Da ist noch etwas. Es gibt eine offizielle Liste mit Warnsignalen für Suizidgefährdete und für potenzielle Amokläufer. Unser Kollegium nimmt beide sehr ernst. Sozialer Rückzug, starke Isolation, Einzelgänger, selbst Opfer von Gewalt, schlechte Schulleistungen, unbeherrschte Wut, Disziplinprobleme, Intoleranz, Drogen und Alkoholkonsum, deutliche Gewaltandrohung, Mobbingopfer oder Mobbingverhalten, Hang zu Cliquen 1 , das sind lauter Warnzeichen, die auf eine ganze Reihe unserer Schülerinnen und Schüler zutreffen, aber nicht für Timo. Disziplinprobleme, die hat er gelegentlich. Können Sie sich Timo als Gewalt- oder Mobbingopfer vorstellen? Intolerant und schlecht in der Schule? Überhaupt nicht.“
Ich konnte sehen, wie sie die Liste vor ihrem geistigen Auge abarbeitete, einen Punkt nach dem anderen abhakte. „Es gibt immer Ausnahmen.“
Was sollte ich ihr sagen? Dass wir alle gleichermaßen hilflos waren? Dass wir und alle anderen sich nach jedem Amoklauf die gleiche Fragen stellten: Hätten wir es verhindern können, wenn …? Wenn wir was? Besser aufgepasst hätten? Genauer hingehört hätten? Wahrscheinlich.
Ich wandte mich wieder dem Lehrer zu. „Herr Heckmann, gibt es noch andere Schüler, die infrage kommen? Oder ein Kollege? Ein Nachbar?“
„Ich habe unseren Nachbarn zur Linken wegen ruhestörenden Lärms angezeigt, aber deswegen dreht man doch nicht gleich durch. Es könnte natürlich auch sein, dass es die Schlitzaugen-Mafia auf mich abgesehen hatte.“
„Wie kommen Sie denn darauf?“
Er schluckte.
„Ich habe letztes Mal kein Trinkgeld gegeben.“
Ich seufzte.
„Am besten machen Sie uns eine Liste. Sie können gehen. Danke, wir melden uns bei Ihnen.“
„Ich will Polizeischutz.“
„Lassen Sie sich von einem Beamten nach Hause bringen. Da sind Sie sicher. Ich sorge dafür, dass ein Streifenwagen immer mal wieder bei Ihnen vorbeifährt. Mehr kann ich nicht tun.“
Nachdem er gegangen war, schauten wir uns das Klassenfoto an und ließen uns von Frau Stellmacher die Namen der anderen Schüler geben. Dann wurde sie nach unten gerufen. Sie entschuldigte sich bei uns. „Die Presse. Ich muss zusehen, dass die von unserem Schulgelände wegbleiben und vor allem die Schüler in Ruhe lassen. Irgendwie muss ich auch den Eltern klarmachen, dass sie ihre Kinder jetzt nicht einsperren dürfen. Die Jugendlichen brauchen gleichaltrige Bezugspersonen, um solch einen traumatisierenden Vorfall zu verarbeiten. Reden Sie mal mit aufgebrachten Eltern, die ihre Kinder beschützen wollen.“ Sie verschwand grußlos.
Wir blieben noch sitzen.
„Kofi“, fragte ich später, „was hältst du von dem Ganzen?“
„Ich habe natürlich von Heckmann gehört. Er ist jetzt wohl anderthalb Jahre auf dem Campe. Umstritten vom ersten Tag an. Gerüchte reisen schnell von Schule zu Schule.“
„Hast du irgendwas gehört oder gesehen, während des Festivals?“
„Über Heckmann? Nee, dazu sind Lehrer viel zu unwichtig. In ihrer Freizeit haben Schüler Wichtigeres zu tun.“
Ich erzählte ihm davon, dass ich ein paar der Beteiligten beobachtet hatte.
„Wow, Kriminalhauptkommissar Ollner belauscht Verdächtige bei der Planung einer Straftat und tut … nichts.“
„Wenn ich sie tatsächlich belauscht hätte, könntest du recht haben. Leider habe ich kein einziges Wort verstanden. Außerdem,
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