Ausweichmanöver (German Edition)
kauerten davor und weinten. Ein Junge legte eine Blume ab. Frauen standen mit Taschentüchern vor dem Gesicht herum. Ein paar Männer waren auch da. Sie drückten sich wortlos die Hände und flüsterten sich etwas zu.
Sebastian beschloss, noch etwas zu bleiben und sich die Fotos genauer anzusehen. Vielleicht erfuhr er aus den Gesprächen der anderen auch noch etwas Interessantes.
Er hatte sich an einen Baum gelehnt und beobachtete, wie der Daul sich mit einer Frau und dem Oberpolizisten vor die Presse stellte. Na klar, der Schünemann darf auch nicht fehlen.
Dann sah er ihn.
Den Russenscheißer.
Ein bisschen lädiert sah er aus. Aber nicht lädiert genug.
21
Lars lag im Bett und starrte an die Decke. Er dachte an gar nichts. Bleischwer und leer. So fühlte er sich. Fühlte er überhaupt etwas? Er spürte, dass die Tür zu seinem Zimmer sich öffnete. Gleich darauf setzte seine Mutter sich auf die Bettkante. Er erkannte sie am Geruch und an den kleinen Geräuschen, die sie beim Atmen machte, nachdem sie die Treppe zu ihm heraufgestiegen war. Sie legte ihm die Hand auf die Schulter.
„Um elf Uhr gibt es eine Andacht. Da solltest du hingehen.“
Er nickte, ohne den Blick von der Decke zu lösen. Hingehen? Wohin denn? Zur Schule? Wozu denn?
„Frau Shekovietz hat angerufen, Valentin wird rechtzeitig entlassen und kommt auch hin.“
Valentin. Valentin war sein Freund. „Wie geht es Nora?“
Seine Mutter seufzte.
„Sie ist schon seit fünf Uhr auf. Sitzt in der Küche und starrt aus dem Fenster.“
Beide schraken zusammen, als Lars’ Handy klingelte.
„Willst du nicht drangehen?“
Lars zuckte mit den Schultern. „Wer ist es denn?“
Seine Mutter schaute auf das Display. „Gini.“
Sofort schnappte er sich das Handy. „Hi.“ Doch schon das „Wie geht’s?“ blieb ihm im Hals stecken.
„Wir kommen bei euch vorbei, Saskia und ich. Nora geht nicht an ihr Telefon. Ist sie okay?“
„Hm, sie ist auf. Wann seid ihr hier?“
„In ’ner halben Stunde etwa.“
„Bis gleich.“ Lars legte das Handy zur Seite und setzte sich auf. Sein Zimmer sah aus wie immer. Die Sonne schien, er hörte sogar einen Vogel. Autos fuhren vorbei, eine Mülltonne ratterte über einen Gartenweg. Alles wie immer. Unglaublich.
Lars duschte heiß, er duschte kalt. Es änderte nichts. Eine milchige Wolke umgab ihn, dämpfte Töne und Farben, trennte ihn von der echten Welt.
Unwillkürlich gingen sie enger nebeneinander, je weiter sie sich dem Schulgebäude näherten. Sie nahmen die Abkürzung zwischen den beiden HAWK-Gebäuden hindurch, an der Mensa vorbei. Verstohlen spähten sie alle zu dem Dach hinauf. Nichts rührte sich. Rot-weiße Absperrbänder flatterten an der Seitenwand im Wind.
Ob der Täter von da aus aufs Dach gelangt ist? Ein Student? Nicht unbedingt. Jeder konnte dort hingehen. Er spürte, dass seine Beine zitterten.
Er konzentrierte sich auf den Teich vor ihm. Gini berührte seinen Ellenbogen. „Da vorn ist Valentin.“
„Wo?“ Nora löste sich aus den Armen der beiden Freundinnen, reckte den Hals und rannte los. Kurz vor Valentin blieb sie stehen. Offensichtlich wusste sie nicht, ob und wo sie ihn berühren durfte. Er streckte den rechten Arm aus und zog sie zu sich heran. Er drückte sie fest an sich und streichelte ihren Rücken, der leicht zuckte und bebte.
Lars erkannte, dass Nora endlich weinen konnte. Er konnte zusehen, wie die Versteinerung aus ihr herausfloss.
Gini und Saskia hatten ihn in die Mitte genommen. Sie hatten sich auf beiden Seiten bei ihm eingehängt. Zu dritt waren sie bei Nora und Valentin angekommen. Da Lars keine Hand frei hatte, nickte er dem Freund zu. „Gut, dass du wieder draußen bist.“
Gemeinsam gingen sie die letzten Schritte auf den Schulhof. Obwohl so viele Menschen versammelt waren, herrschte Stille wie auf einem Fried …, nein, Lars schob diesen Gedanken weit von sich, still wie bei einem Gottesdienst. Das passte besser.
Stumm standen sie vor dem Meer aus Kerzen, Blumen, Fotos und Kuscheltieren, die im Rondell aufgestellt waren. Lars versuchte, jede Einzelheit in sich aufzunehmen, versuchte, die Tränen zu unterdrücken, die ihm über die Wangen liefen, ohne dass er etwas dagegen tun konnte.
Er bemerkte, dass es seinen Freunden nicht anders erging. Sie hielten sich an den Händen, rückten näher zusammen, trösteten sich gegenseitig durch ihre Gegenwart.
Pfarrer Braunbeck ging von Gruppe zu Gruppe. Lars hörte, wie er tröstend auf zwei kleinere
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