Auszeit für Engel: Roman (German Edition)
verschlossen; sie ertrugen es nicht, jemandem, der mehr als ein Jahr älter war als sie, in die Augen zu sehen. Aber Shay, der Einzige unter seinen Altersgenossen, der, soweit ich mich erinnern konnte, bei seinem richtigen Namen gerufen wurde, war freundlich und aufgeschlossen. Zuweilen geradezu in Flirtstimmung. Claire, die ein, zwei Jahre älter als er war, sagte immer: »Ich bin Shay Delaney und ich kriege, was ich will.«
Ich hatte keine Zeit, mich einem von Mums Verhören zu unterziehen. (»Hat er ein großes Auto?« »Ich habe gehört, seine Frau ist sehr elegant.« »Hat der Vater die Schickse je verlassen und ist nach Hause gekommen?«). Ich musste mich hinlegen und zittern und über Shay nachdenken.
Er war der gleiche Jahrgang wie Micko, Macker, Toolser und Garv, aber er gehörte nicht richtig zu ihrer Clique. Das war seine Entscheidung, nicht ihre; sie wären hoch erfreut gewesen, wenn er mit ihnen Freundschaft geschlossen hätte. Er schien sich zwischen verschiedenen Gruppen zu bewegen und wurde von allen willkommen geheißen. Er war einfach einer von den Menschen, die Charisma hatten – obwohl ich das Wort damals nicht kannte. Claire brachte es am besten auf den Punkt: »Wenn Shay Delaney in einen Haufen Scheiße fallen würde, käme er in einer Duftwolke von Chanel No. 5 wieder raus.«
Nicht nur sah er auffällig gut aus, er behandelte andere Menschen auch anständig, so dass er den Ruf hatte, ein netter Mensch zu sein. Und die tragische Tatsache, dass sein Vater die Familie verlassen hatte, brachte ihm eine Menge Mitgefühl ein.
Weil er älter aussah und Selbstvertrauen und Charme hatte und wortgewandt war, gelangte er an Türhütern vorbei in Einrichtungen, zu denen wir keinen Zutritt hatten, und bewegte sich in einer anderen Welt. Aber er kam immer wieder zu uns zurück, und es klang nie angeberisch, wenn er uns mit Geschichten erheiterte, wie er in einem Schwesternheim Crème de Menthe getrunken hatte oder dass er bei der Geburtstagsparty eines Mädchens aus reicher Familie in Meath gewesen
war. Natürlich hatte er immer viele Freundinnen; sie waren meistens schon aus der Schule raus und machten eine Ausbildung oder gingen aufs College, was die anderen Jungen zutiefst beeindruckte.
Jedenfalls ging ich schon ungefähr ein halbes Jahr mit Garv und war sehr glücklich mit ihm, als Shay Delaney anfing, mir den Hof zu machen. Er hatte immer ein warmes Lächeln für mich und verwickelte mich in Gespräche, bei denen er so leise sprach, dass alle anderen ausgeschlossen waren. Und ich hatte den Eindruck, dass er mich ständig beobachtete. Wenn wir zum Beispiel alle zusammen an einer Mauer herumlungerten, rauchten und uns herumschubsten – das Übliche eben – und ich den Blick hob, waren seine Augen auf mich gerichtet. Bei jedem anderen hätte ich angenommen, er würde flirten, aber es war Shay Delaney, er spielte nicht in meiner Liga.
Ungefähr eine Woche, nachdem er das mit dem Lächeln und den intimen Gesprächen noch verstärkt hatte, fand eine Party statt. Ein Flattern in meiner Magengegend sagte mir, dass etwas passieren würde, und so war es auch. Irgendwann wurde Garv losgeschickt, um mehr Bier zu kaufen, und als ich aus der Küche kam, schnitt Shay mir den Weg ab und zog mich in den Besenschrank unter der Treppe. Ich protestierte atemlos, aber er lachte und zog die Tür hinter uns zu, und nachdem er mir halb scherzhaft zu verstehen gegeben hatte, dass ich ihn wahnsinnig machte, versuchte er, mich zu küssen. Als ich in dem dunklen, engen Raum gegen seinen großen Körper gedrückt wurde, wurde mir klar, dass ich mir sein Interesse an mir nicht eingebildet hatte; dann merkte ich, dass sein Gesicht sich meinem näherte, und es war, als gingen alle meine Träume plötzlich in Erfüllung.
»Ich kann nicht«, sagte ich und drehte den Kopf weg.
»Warum nicht?«
»Wegen Garv.«
»Und wenn Garv nicht wäre, würdest du mich dann lassen?«
Ich konnte nicht antworten. War das nicht sonnenklar?
»Warum ich?«, fragte ich. »Warum interessierst du dich für mich?«
»So ist es nun mal«, sagte er und fuhr mir mit dem Daumen über den Mund, was mich schwindlig machte.
Ich habe nie richtig verstanden, was ihn an mir anzog. Ich sah längst nicht so gut aus wie seine anderen Freundinnen, und ich war auch nicht so weltgewandt. Die beste Erklärung, die ich finden konnte, war die, dass sein Zuhause ein wenig chaotisch war, weil sein Vater seine Mutter verlassen hatte, und ich für ihn eine gewisse
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