Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Auszeit

Auszeit

Titel: Auszeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marco von Münchhausen
Vom Netzwerk:
die ständig vom Wind durchweht war. Deshalb war das Wasser in den Wasserlöchern, aus denen er normalerweise trank, niemals ruhig und glatt; der Wind kräuselte die Oberfläche , und nichts spiegelte sich im Wasser.
    Eines Tages wanderte der Löwe in einen Wald, wo er jagte und spielte, bis er sich ziemlich müde und durstig fühlte.
    Auf der Suche nach Wasser kam er zu einem Teich mit dem kühlsten, verlockendsten und angenehmsten Wasser, das man sich überhaupt vorstellen kann.
    Löwen können — wie andere wilde Tiere auch — Wasser riechen, und der Geruch dieses Wassers war für ihn wie Ambrosia.
    Der Löwe näherte sich dem Teich und streckte seinen Schädel übers Wasser, um zu trinken.
    Plötzlich sah er jedoch sein eigenes Spiegelbild und dachte, es sei ein anderer Löwe.
    »Oh je«, sagte er zu sich. »Das Wasser gehört wohl einem anderen Löwen. Ich sollte vorsichtig sein.«
    Er zog sich zurück, aber der Durst trieb ihn wieder zum Wasser. Und abermals sah er den Kopf eines furchterregenden Löwen, der ihn von der Wasseroberfläche her anstarrte.
    |110| Diesmal hoffte unser Löwe, er könne den »anderen Löwen« verjagen und riss sein Maul auf, um furchterregend zu brüllen. Aber als er gerade seine Zähne fletschte, riss natürlich auch der andere Löwe sein Maul auf, und der gefährliche Anblick erschreckte unseren Löwen. Und immer wieder zog sich der Löwe zurück und näherte sich dem Teich. Und immer wieder machte er dieselbe Erfahrung . Nachdem einige Zeit vergangen war, wurde er aber so durstig und verzweifelt, dass er zu sich selbst sagte: »Löwe hin, Löwe her, ich werde jetzt von diesem Wasser trinken.«
    Und wahrlich, sobald er sein Gesicht in das Wasser tauchte, war der »andere Löwe« auch schon verschwunden .
    In der Tat, oft sind unsere eigenen Ängste und Befürchtungen viel größer als die vermutete Gefahr, in manchen Fällen sind sie sogar völlig unbegründet. Wie der Löwe im Wasser nur sein eigenes Spiegelbild sieht, sehen wir im Leben oft Gefahren, die allein unsere inneren Negativbilder spiegeln und mit der Realität gar nichts zu tun haben. Und ebenso wie in der Geschichte gilt es auch in unserem Leben manchmal, nur den ersten Schritt zu wagen, dem entgegenzutreten, wovor wir uns ängstigen. »Tue, was du fürchtest, und die Furcht stirbt einen sicheren Tod«, sagte schon Dale Carnegie. Wie ein Kind, das voller Angst zum ersten Mal auf dem Dreimeterbrett steht, sich dann überwindet, ins Wasser zu springen, und die Erfahrung macht, dass all seine Befürchtungen unbegründet waren. Wenn wir dagegen vor unserer Angst davonlaufen, wird sie häufig immer größer und gewinnt immer mehr Macht über uns.
    In einem Märchen muss ein Held auf dem Weg zu seinem Ziel mehrere Prüfungen bestehen. Unter anderem muss er ein Höhlenlabyrinth durchqueren. Plötzlich merkt er, dass |111| er in den Höhlengängen verfolgt wird, und als er sich umdreht , stellt er mit Schrecken fest, dass die sogenannten Schattenwölfe hinter ihm her sind. Von ihnen wird berichtet , dass sie bisher jeden Menschen zu Tode gehetzt hätten. Sofort läuft der Held los und versucht vor ihnen zu fliehen, doch je schneller er auch läuft, umso näher rückt das Rudel der Wölfe. Schon hört er ihr Schnaufen und Jaulen dicht an seinen Fersen, als er plötzlich über einen Stein stolpert und zu Boden stürzt. Nun sei es um ihn geschehen, nun würden sie gleich zubeißen und ihn in Stücke reißen, denkt er. Doch die Wölfe stehen still, in einem Meter Entfernung, und starren ihn mit ihren roten fürchterlichen Augen an. Gleichzeitig bemerkt er, dass er unmittelbar vor einem Abgrund zu Fall gekommen war. Noch ein paar Schritte weiter und er wäre in eine tiefe Schlucht gestürzt und unten auf dem Felsen zerschellt. Noch immer bewegen sich die Wölfe nicht. In seiner Verzweiflung rafft er sich auf und geht einen Schritt auf das Rudel zu, das zu seiner großen Verwunderung ebenfalls einen Schritt zurückweicht. Mit dem Rest seines Mutes wagt er es, immer entschiedener auf sie zuzugehen, und immer schneller weichen auch sie zurück. Als er schließlich auf sie zuläuft, drehen sie sich um und ergreifen die Flucht, bis sie völlig verschwunden sind. Am Ausgang des Labyrinths trifft er später auf einen alten, weisen Mann, dem er sein Erlebnis erzählt. Da lächelt dieser und sagt: »Die Schattenwölfe waren nichts als deine eigenen Ängste. Nur wenn du vor ihnen flüchtest, haben sie Macht über dich und können dich zu

Weitere Kostenlose Bücher