Auszeit
zunächst sehr abstrakten und trockenen Materie klar, dass sie damit im Leben weder erfolgreich noch glücklich werden würden, insofern am besten schnellstmöglich einen anderen Weg einschlagen sollten, der ihrer persönlichen Veranlagung entsprach. Oft stieß ich dann auf den resignierenden Einwand, dann hätten sie aber zwei Jahre ihres Lebens vertan. Nein, das hatten sie nicht! Sie hatten sich in einer ihnen vielleicht nicht primär liegenden, aber doch sehr wichtigen Denkweise geübt: nämlich logisch und strukturiert an ein Problem heranzugehen, dialektisch in Pro und Contra zu denken, Standpunkte nachvollziehbar begründen zu müssen und zu erkennen, dass es im Einzelfall oft sehr schwer ist, zu sagen, wer Recht hat und, was wohl eine der schwierigsten Erkenntnisse im Leben ist, dass in vielen Fällen beide Seiten Recht haben. Insofern war |119| ihr »Grammatikstudium« nicht umsonst, auch wenn sie es nicht zum Abschluss gebracht haben. Aber auch wenn sie das Studium mit dem Examen abgeschlossen haben, dann haben sie im Sinn dieser Geschichte nur Grammatik gelernt. Das Schwimmen beginnt danach. Das bedeutet für einen Juristen die Fähigkeit genau zu erkennen, was der Mandant will, ob der Fall die eigenen Grenzen überschreitet, Kommunikations- und Verhandlungstechnik, Einfühlungsvermögen, zuhören können, Versöhnungsbereitschaft und so weiter. So wie ein angehender Chirurg nach seinem Studium praktisch lernen muss zu operieren oder ein Betriebswirtschaftsstudent nach seinem Abschluss erstmals erfährt, dass es im Business oft um ganz andere Dinge geht. – So ist es in vielen Bereichen, womit die Kenntnis der »Grammatik« nicht infrage gestellt werden soll. Entscheidend ist es nur, daneben oder danach auch »Schwimmen« zu lernen.
Eigentlich beginnt dieses Thema schon sehr früh im Leben: Wo lernt man, wie man lernt, wie man mit Niederlagen umgeht, wie man sich motiviert, wie man im Stress die Balance behält, wie man mit anderen redet, um verstanden zu werden, wie man eine Beziehung führt, wie man Kinder erzieht, wie man mit Geld umgeht … und wie man erfüllt und glücklich leben kann? Das ist das Schwimmen. Und vor allem, wie man sich über Wasser hält, wenn das Schiff sinkt: Wenn man in einer Sinnkrise steckt, seinen Job verloren hat, schwer krank geworden ist oder einen nahen Angehörigen verloren hat?
Manchmal haben es die Eltern geschafft, einem das beizubringen, manchmal lernt man es in der Not selbst, doch es ist möglich, sich in entsprechenden Trainings und Ausbildungen diese Fähigkeiten schon vorher anzueignen, also schwimmen zu lernen, bevor das Boot sinkt – zumindest aber, wenn es sinkt, professionelle »Schwimmlehrer« zu engagieren.
|120| Fragen zum Nachdenken
Wie viele Dinge habe ich gelernt, von denen ich rückblickend sagen könnte, dass sie für mich wie »Grammatik« sind und mit der Praxis wenig zu tun haben? Welche Fähigkeit könnte ich dadurch dennoch erlangt haben?
Was bedeutet es für mich, » schwimmen« zu können?
In welchen Bereichen sollte und möchte ich noch »schwimmen« lernen? Und wie könnte ich das in mein Leben integrieren?
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|121| Der »richtige« Weg
Ein besonders frommer Derwisch geht tief in Gedanken versunken an einem Flussufer entlang. Plötzlich wird er aufgeschreckt durch den laut hinausgeschrienen Derwischruf »U YA HU«.
Der Derwisch hört genau hin und sagt zu sich: »Das ist vollkommener Blödsinn, denn der Rufer spricht die Silben ganz falsch aus. Richtig muss es heißen ›YA HU‹.«
Er weiß, dass er als wissender Schüler die Pflicht hat, diesen unglücklichen Schüler eines Besseren zu belehren. Deshalb mietet er sich ein Boot und rudert zu der im Fluss liegenden Insel, von der die Schreie kommen. Dort findet er einen Mann in einem Derwischgewand in einer Hütte, der sich zu dem Schrei rhythmisch bewegt.
»Mein Freund«, sagt der Derwisch, »du sprichst das falsch aus. Es ist meine Pflicht, dich darauf hinzuweisen. Du musst das so sprechen.« Und er macht es ihm vor.
»Danke«, sagt der andere demütig, und der erste Derwisch steigt wieder in sein Boot. Er ist zufrieden mit sich, weil er wieder eine gute Tat vollbracht hat. Denn es wird gesagt, dass derjenige, der die richtige Formel benutzt, sogar über Wasser gehen kann. Kaum ist er am Ufer, tönt es wieder aus der Hütte: »U YA HU.«
Während der besonders fromme Derwisch über die Halsstarrigkeit der menschlichen Natur zu meditieren |122| beginnt,
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