Auszeit
experimentieren und sich zu ändern. Dabei gehen sie möglichst behutsam und tastend vor, ohne starre Konzepte, und folgen primär ihrer Intuition und ihrem Gefühl. Sie haben leichter den Mut, loszulassen und auch Nachsicht zu üben. Sie vergeben sich nichts, wenn sie jemandem vergeben. Bildlich gesprochen agieren sie mit der Haltung des Aikido-Kämpfers, der sich der Kraft des Gegners nicht entgegenstellt, sondern ausweicht und diesen mit seiner eigenen Energie zu Fall bringt. Auch äußerlich wirken diese Menschen relativ geschmeidig und entspannt, mit gelassenen, oft gütig lächelnden Augen und Gesichtszügen.
Natürlich wurden hier zwei Extreme gezeichnet, und auch wenn man bisweilen einem reinen Prototypen wie den hier dargestellten begegnen mag, so hat doch jeder Mensch beide Haltungen in sich, die je nach Lebensphase oder Situation stärker zum Tragen kommen. Bei den meisten lassen sich allerdings Tendenzen feststellen, die mehr in die eine oder andere Richtung gehen, und bei der Persönlichkeitsentwicklung vollzieht sich der gesunde Reifungsprozess von der starren Eichenhaltung hin zur flexiblen Schilfhaltung. Man wird sonst die Stürme des Lebens nur schwer überstehen. Die heutigen Stürme sind Wirtschaftskrisen, Krankheiten oder Epidemien, Naturkatastrophen, persönliche Konflikte und Beziehungskrisen, menschliche Verluste und innere Sinnkrisen. Entscheidend ist dabei die Kombination aus einer festen Verankerung im Boden, also einer inneren Verwurzelung (das haben Eiche und Schilf gemeinsam), und einer äußerlichen Flexibilität. »Sich beugen, sich eng an den Boden pressen und den Sturm über sich hinwegfegen zu lassen« bedeutet konkret:
den Sturm rechtzeitig zu erkennen,
ihn anzunehmen, so sehr man ihn auch fürchten mag, und
sich anzupassen. Das heißt, ohne groß zu hadern, zu lernen, mit der neuen Situation bestmöglich klarzukommen.
|116| Sicher ist dies oft nicht leicht, aber der einzig kluge Weg, um nicht verbittert auf der Strecke zu bleiben.
Fragen zum Nachdenken
In welchen Situationen bin ich eher unbeugsam und unnachgiebig wie eine Eiche?
Wann dagegen bin ich eher flexibel und anpassungsfähig wie ein Schilfrohr?
Wie kann ich es schaffen, immer mehr mit der Haltung des Schilfrohrs zu leben?
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|117| Lernen und Fortbildung
Ein Mullah, stolzer Besitzer eines Kahns, lud den Schulmeister seines Dorfes zu einer Bootsfahrt auf dem Kaspischen Meer ein. Behaglich räkelte sich der Schulmeister unter dem Sonnendach des Bootes und fragte den Mullah: »Wie wird wohl heute das Wetter werden?«
Der Mullah prüfte den Wind, blickte zur Sonne und sagte: »Wenn du mir fragst, wir kriegen Sturm.«
Entsetzt rümpfte der Schulmeister die Nase und kritisierte : »Mullah, hast du nie Grammatik gelernt? Das heißt nicht mir, sondern mich.« Dafür hatte der so Getadelte nur ein Achselzucken übrig: »Was kümmert mir die Grammatik ?«
Der Schulmeister war verzweifelt: »Du kannst keine Grammatik. Damit ist die Hälfte deines Lebens vergeudet .«
Wie es der Mullah vorausgesagt hatte, zogen am Horizont dunkle Wolken auf, ein starker Sturm peitschte die Wogen, und das Boot schwankte wie eine Nussschale. Aus den Wellen ergossen sich riesige Wassermassen über das kleine Schiff.
Da fragte der Mullah den Schulmeister: »Hast du jemals in diesem Leben schwimmen gelernt?«
Der Schulmeister antwortete: »Nein, warum sollte ich denn schwimmen lernen?«
|118| Breit grinsend gab ihm der Mullah zur Antwort: »Damit sind von deinem Leben jetzt beide Hälften vergeudet, denn unser Boot ist gerade dabei zu sinken.«
Grammatik oder Schwimmen: Wofür könnten sie in dieser Parabel stehen? »Grammatik« kann man verstehen als das theoretische Wissen, wissenschaftliche Details und Finessen, als Abstraktes und intellektuelle Abhandlungen, letztlich als das Wissen über das Leben, im Unterschied zum praktischen Wissen und Können, wie man lebt … und überlebt. Dafür kann das »Schwimmen« in der Parabel stehen. Denn wer schwimmen nur aus Büchern gelernt hat, wird sich auch nicht retten können, wenn das Boot sinkt.
Wie viele Dinge haben wir schon gelernt, die in der Praxis relativ wertlos sind? Nun gut, sie mögen unsere Denkfähigkeit trainiert haben, und insofern letztlich doch nicht ganz wertlos sein. Jahrelang habe ich nach meinem Staatsexamen angehende Juristen ausgebildet und während ihrer Studienzeit gecoacht. Manchen war, selbst nach mehreren Jahren qualvoller Schinderei mit dieser
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