Auszeit
sieht er plötzlich eine merkwürdige Erscheinung .
Von der Insel her kommt der andere Mann auf ihn zu, und er geht auf der Wasseroberfläche!
Starr vor Staunen lässt der Fromme den anderen an sein Ruderboot herantreten und hört ihn sagen: »Bruder, entschuldige , wenn ich dich noch einmal belästige, aber ich bin zu dir gekommen, um dich zu bitten, mir noch einmal die richtige Formel des Ausrufs zu nennen, denn ich kann sie nur so schwer behalten.«
Viele Dogmatiker, Gurus und sonstige »Ich-weiß-wo’s-langgeht-Propheten« nehmen für sich in Anspruch, die »richtige« Formel, den »richtigen« Weg gefunden zu haben wie man leben soll, um glücklich zu werden oder um ein »gottgefälliges« Leben zu führen. In den großen Religionen findet man sie wie auch in den verschiedenen Richtungen innerhalb der einzelnen Traditionen. Und obwohl sie sich oft widersprechen, behaupten viele, den »wahren« Schlüssel zur Seligkeit zu besitzen. Als Rat- und Orientierungssuchender kann man leicht verwirrt und unsicher werden. Auf wen soll man hören, wem glauben, wem folgen?
Niemand kann diese Frage für uns beantworten, weder Weise, Gelehrte, Therapeuten noch Priester. Niemand kann die Antwort auf die für uns wichtigsten und essenziellsten Fragen im Leben finden, genauso wenig, wie niemand Reifungs- und Wachstumsprozesse für uns absolvieren kann. Jeder muss für sich selbst herausfinden, was ihm gut tut, was ihn erfüllt und ihm hilft, Orientierung und inneren Halt im Leben zu gewinnen. Da gibt es keine Patentlösungen. Denn jeder Mensch ist verschieden, ist anders »gestrickt«, hat eine eigene Persönlichkeits- und Denkstruktur, unterschiedliche Vorlieben, Bedürfnisse und Empfindungsweisen, gewissermaßen auch eine andere |123| Seelenstruktur. Was für den einen gut ist, kann für den nächsten wenig hilfreich sein.
Letztlich geht es auch nicht um die Frage nach dem dogmatisch richtigen Weg, sondern um die ganz pragmatische Frage, was einem Menschen als Kraftquelle und zur Orientierung dienen kann, um seinen inneren Durst zu löschen. Es geht also nicht um »richtig« oder »falsch«, sondern nur um »wirksam« oder »unwirksam« im eigenen Leben. Nicht, was man tun sollte, sondern was man tun kann. Das herauszufinden erfordert inneres Interesse, Offenheit, den Mut, behutsam zu experimentieren, und manchmal auch eine gesunde Skepsis gegenüber allzu simplen und rigorosen Heilsversprechungen. Mit der Zeit wird man mehr und mehr herausfinden, was einem hilft auf dem Weg nach Innen, zu Gott, wenn man gläubig ist, oder einfach zu einem erfüllten Leben. Hierfür ist es letztlich wohl auch nicht erforderlich, außergewöhnliche Fähigkeiten zu erlangen und übers Wasser zu laufen. Tiefes seelisches Erleben bedarf nicht des Spektakulären, sondern vollzieht sich meist im Einfachen und Gewöhnlichen.
Und wenn man tatsächlich der Überzeugung ist, für sich den richtigen Weg gefunden zu haben, ist es wiederum weise, mit Belehrungen anderer äußerst zurückhaltend und vorsichtig umzugehen. Zu groß ist oft die Versuchung, dann wie der Derwisch seinen »Brüdern« die »richtige Weise« beibringen zu wollen.
Fragen zum Nachdenken
Wie geht es mir, wenn andere mich belehren wollen, mir den »richtigen Weg« weisen wollen?
Wann bin ich selbst versucht, anderen zu sagen, wo es langgeht, was richtig und was falsch ist?
|124| Habe ich für mich schon meinen Weg und die zu mir passenden Möglichkeiten herausgefunden, innerlich erfüllt zu leben?
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|125| Vielfalt der Persönlichkeit
Immer wieder haben Menschen den Versuch unternommen, sich selbst und andere zu typisieren und dabei auf Grundcharaktere zu reduzieren – meist mit dem Ziel, die menschliche Persönlichkeit besser zu verstehen und beschreiben zu können. Nicht nur Philosophen und Psychologen haben die Geistesgeschichte des Abendlandes mit unzähligen Typisierungsmodellen angereichert, auch die großen Dichter stellten ihre handelnden Personen immer wieder als scheinbar einheitliche Charaktere dar. Vor allem in den Dramen der Theaterwelt tritt jede Figur mit einer ganz bestimmten Grundeigenschaft auf – oder zumindest mit zwei widerstreitenden Grundtendenzen, wie beispielsweise Goethes Faust, wenn er seine berühmten Worte spricht: »Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust.« Entsprechend schildert auch Hermann Hesse die Hauptfigur Harry seines Romans Der Steppenwolf . In ihm lebt zum einen ein »Mensch«, der sich in einer Welt von
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