Auszeit
Gedanken und Gefühlen, von Kultur sowie von gezähmter und sublimierter Natur äußert, und daneben lebt andererseits auch noch ein »Wolf«, stellvertretend für eine dunkle Welt von Trieben, von Wildheit, Grausamkeit und archaischer roher Natur. Doch trotz dieser Typisierung, die das ganze Buch durchzieht, ist sich Hesse der Begrenztheit und Relativität all solcher Schematisierungen und Reduzierungen des Menschen auf eine oder wenige Grundcharaktereigenschaften bewusst, und stellt dies auch klar:
|126| Die Zweiteilung in Wolf und Mensch, in Trieb und Geist, durch welche Harry sich sein Schicksal verständlich zu machen sucht, ist eine sehr grobe Vereinfachung, eine Vergewaltigung des Wirklichen zugunsten einer plausiblen, aber irrigen Erklärung der Widersprüche, welche dieser Mensch in sich vorfindet. (…) – Denn kein einziger Mensch (…) ist so angenehm einfach, dass sein Wesen sich als die Summe von nur zweien oder dreien Hauptelementen erklären ließe; und gar einen so sehr differenzierten Menschen wie Harry mit der naiven Einteilung in Wolf und Mensch zu erklären, ist ein hoffnungslos kindischer Versuch. Harry besteht nicht aus zwei Wesen, sondern aus hundert, aus Tausenden. Sein Leben schwingt (wie jedes Menschen Leben) nicht bloß zwischen zwei Polen, etwa dem Trieb und dem Geist, oder dem Heiligen und dem Wüstling, sondern es schwingt zwischen Tausenden, zwischen unzählbaren Polpaaren. (…) – In Wirklichkeit aber ist kein Ich, auch nicht das naivste , eine Einheit, sondern eine höchst vielfältige Welt, ein kleiner Sternenhimmel, ein Chaos von Formen, von Stufen und Zuständen, von Erbschaften und Möglichkeiten. (…) Als Körper ist jeder Mensch eins, als Seele nie.
Und das scheint tatsächlich das Dilemma zu sein: Auf der einen Seite können Vereinfachungen, Schematisierungen, Typologisierungen und Modelle helfen, uns selbst und auch andere Menschen besser zu verstehen, und auf der anderen Seite birgt jede Einteilung des Menschen in bestimmte Kategorien und Typen die Gefahr in sich, die Einzigartigkeit des Individuums und die subtile Differenziertheit der menschlichen Persönlichkeit außer Acht zu lassen. – Welche Konsequenzen lassen sich daraus für die Alltagspraxis ableiten?
Vorsicht mit allen Pauschalisierungen und Reduzierungen eines Menschen auf einen Wesenszug, so plausibel und überzeugend |127| diese auch klingen mögen. Die Psyche und der Charakter einer Person sind wesentlich komplexer, als dass sie sich auf eine oder zwei Grundtendenzen beschränken ließen.
Vorsicht auch mit allen typisierenden Modellen. Sie können sehr hilfreich sein, um bestimmte Denk- und Verhaltensweisen des Menschen besser verstehen zu lernen. Vor allem können sie dazu beitragen, zu erkennen, wie unterschiedlich wir Menschen sind und dass jeder Typ andere Bedürfnisse, Empfindungen, Reaktionsweisen und Antriebsmotive hat. Sofern man mit neugierigem, respektvollem Interesse und ohne Bewertung an die Sache herangeht, mag so ein Modell durchaus zu einem vertieften Verständnis der eigenen Person und der Mitmenschen beitragen und helfen, besser mit sich und den anderen klarzukommen. Wichtig ist dabei, sich der Relativität jeder Typologisierung bewusst zu werden und zu wissen, dass es jeweils nur eine bestimmte »gefärbte Brille« ist, durch die man etwas anschaut, das sich schon durch die nächste Brille ganz anders präsentieren kann.
Vorsicht daher auch mit Patentrezepten nach dem Motto: »Wenn Sie das Problem XY haben, brauchen Sie nur Strategie 137 anwenden …« – Es gibt in der Regel keine Patentrezepte. Jeder ist anders »gestrickt«, hat eine andere Grundveranlagung, eine andere Vergangenheit, andere Ziele und so weiter Was für den einen stimmt, kann für den nächsten schon wieder falsch sein. Daher gilt es auch mit Ratschlägen behutsam umzugehen. Man kann anderen Menschen Möglichkeiten aufzeigen und anbieten. Welche davon wirklich passen, muss jeder für sich selbst herausfinden. Erforderlich ist dabei allerdings die Bereitschaft, zu erspüren: »Was ist wirklich gut und hilfreich für mich? Und was passt nicht zu mir, auch wenn möglicherweise viele andere damit gut zurecht kommen« … und der Mut, diesem eigenen Gespür auch zu folgen.
|128| Ein hilfreiches Modell (wenn auch wieder nur ein Modell) ist die Vorstellung, dass jeder von uns aus vielfältigen Persönlichkeitsanteilen besteht, die sich einerseits ergänzen, andererseits aber auch widersprechen können. So kann man in
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