Autor
lag ein aufgeschlagenes Buch, das Sauls Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Er griff danach. Sein Titel lautete: Der Orden unter dem Totenkopf. Die Geschichte der SS. Der Verfasser des 1966 erschienenen Buches war Heinz Höhne. Auf einer der beiden aufgeschlagenen Seiten war eine längere Passage unterstrichen:
Die eigentliche Sensation, das wahrhaft Entsetzliche der Judenvernichtung lag darin, daß Tausende biederer Familienväter dem öffentlichen Geschäft des Mordens nachgingen und sich gleichsam am Feierabend in dem Gefühl streckten, gesetzestreue, ordentliche Bürger zu sein, denen es nicht einfallen würde, einen Schritt vom Pfad privater Tugend abzuweichen. Der Sadismus war nur ein Aspekt der Massenvernichtung und nicht einmal ein von der SS-Führung gewünschter. Im Gegenteil, Himmler beherrschte die fixe Idee, die Massenvernichtung müsse sachlich-sauber verwirklicht werden, der SS-Mann habe im staatlich befohlenen Mord >anständig< zu bleiben.*
»Anständig?« murmelte Saul fassungslos.
An den Rand der Passage waren mit Kugelschreiber zwei Gruppen von hebräischen Wörtern gekritzelt.
»Das ist die Handschrift meines Vaters«, erklärte Erika.
»Du bist doch die Expertin für Hebräisch. Was heißt das?«
»Es handelt sich dabei um Zitate - aus Joseph Conrads Herz der Finsternis, glaube ich. Das erste Zitat lautet: >Das Grauen, das Grauen.««
»Und das zweite?«
Sie zögerte.
»Was hast du denn?«
Sie gab keine Antwort.
»Kannst du es denn nicht übersetzen?«
»Nein, das ist nicht das Problem.«
»Was dann?«
»Das zweite Zitat ist ebenfalls aus Herz der Finsternis... >Vernichtet die Bestien<.«
5
Nachdem sie sich in dem Kellerraum eine Stunde lang gründlich umgesehen hatten, konnten sie die bedrückende Atmosphäre nicht mehr länger ertragen. Saul mußte den Keller verlassen.
Erika verschloß einen Karton mit Dokumenten. »Wie hat mein Vater es nur ausgehalten, immer wieder nach hier unten zu kommen, um neue Fotos an die Wand zu heften und diese Akten durchzusehen? Die ständige Beschäftigung mit diesen Dingen kann doch nicht ohne eine gewisse Wirkung auf ihn geblieben sein.«
»Trotzdem haben wir noch keine Beweise gefunden, daß er Selbstmord begangen hat.«
»Ebensowenig haben wir einen Beweis gefunden, daß er es nicht getan hat«, entgegnete Erika leise.
Sie löschten die Lampe und stiegen die Treppe hinauf. Plötzlich fiel Saul noch etwas ein. Auf der dunklen Treppe packte er Erika an der Schulter.
»Es gibt einen Ort, an dem wir noch nicht nachgesehen haben.«
Er führte sie die Treppe wieder hinunter und leuchtete mit der Taschenlampe über den Betonboden.
»Was hast du vor?«
»Misha wollte uns doch nicht sagen, was wir hier unten finden würden. Er wollte, daß wir ohne feste Erwartungen an die Sache herangingen. Trotzdem hat er uns unabsichtlich etwas über diesen Raum gesagt. Während des Kriegs hat der Doktor hier unten seine kranken jüdischen Patienten versteckt - und ihre Unterlagen.«
»Das hat er gesagt, aber was soll das...?« Erika brach mitten in ihrer Frage ab. »Ach so.«
»Ja, ach so. Der Doktor hatte die Unterlagen im Kellerboden versteckt, hat Misha gesagt. Irgendwo muß es eine Falltür geben.«
Saul suchte weiter mit der Taschenlampe den Fußboden ab. In einer Ecke stieß er schließlich hinter einem Stapel Kartons auf eine Stelle, deren Staubschicht etwas verändert aussah.
Er ertastete mit seinen Fingern eine Vertiefung im Boden und hob ein Stück Beton heraus.
Darunter tat sich ein kleines Fach auf, das nur ein verstaubtes Notizbuch enthielt.
Im Schein der Taschenlampe schlug Saul es auf. Obwohl die Eintragungen in hebräischer Schrift gemacht waren, konnte Saul doch unschwer erkennen, daß es sich dabei um eine Liste handelte.
Von Namen.
Insgesamt zehn.
Alle jüdisch.
6
Es regnete noch immer. Christopher schlief auf dem Sofa. Misha saß neben ihm und starrte auf die offene Schlafzimmertür.
Als Saul in ihr erschien, fuchtelte er energisch mit dem Notizbuch durch die Luft.
»Haben Sie es also gefunden«, sagte Misha.
Erika kam Saul hinterher. »Fast hätten wir es übersehen«, stieß sie aufgebracht hervor. »Soll das heißen, daß du gar nicht wolltest, daß wir es finden sollten?«
»Jedenfalls war ich mir in diesem Punkt nicht ganz sicher.«
»Ob wir es finden sollten - oder nicht?«
»Ist das denn jetzt noch so wichtig, nachdem ihr es gefunden habt?«
»Ich muß gestehen, daß an diesem Punkt mein uneingeschränktes Vertrauen
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