Autor
schlugen die Nazis den Aufstand mit aller Härte nieder und machten das Getto dem Erdboden gleich. Von den jüdischen Überlebenden wurden siebentausend auf der Stelle exekutiert. Siebenund-zwanzigtausend weitere wurden in die Arbeitslager deportiert.
»Mein Vater und meine Mutter gehörten zu einer Gruppe, die von den Nazis nach Treblinka geschickt wurde.«
Saul erschauderte. Treblinka war kein Arbeitslager gewesen, sondern eines der gefürchteten Vernichtungslager. Die dort eingelieferten Juden waren eine Stunde nach ihrer Ankunft tot.
»Aber wie haben dein Vater und deine Mutter überlebt?«
»Sie waren jung und stark. Sie erklärten sich bereit, die Arbeiten auszuführen, für die sich die SS nicht hergeben wollte. Sie mußten die Leichen aus den Gaskammern entfernen und sie verbrennen. Das war auch der Grund, weshalb meine Eltern nicht über den Krieg sprachen. Sie hatten auf Kosten anderer Juden überlebt.«
»Aber sie hatten doch gar keine andere Wahl. Solange sie nicht mit den Nazis kollaborierten und sich nicht an den Morden beteiligten, mußten sie doch unter allen Umständen ums Überleben kämpfen.«
»Das erste und einzige Mal, als mein Vater mit mir über diese Erlebnisse sprach, sagte er, daß er sein damaliges Verhalten zwar rational vor sich rechtfertigen könne, aber nicht im tiefsten Innern seiner Seele. Ich glaube, daß das auch der Grund war, weshalb er in den Mossad eingetreten ist und sein ganzes Leben in den Dienst des Staates Israel gestellt hat -sozusagen als Wiedergutmachung.«
»Aber selbst indem sie sich bereiterklärten, die Leichen wegzuschaffen, konnten deine Eltern sich doch nur einen kurzen Aufschub verschaffen. Bekanntlich bekamen die Arbeitskräfte in den Vernichtungslagern doch fast nichts zu essen. Irgendwann wären deine Eltern also zu schwach zum Arbeiten gewesen. Die SS hätte sie getötet und andere Juden gezwungen, die Leichen wegzuschaffen.«
»Vergiß nicht, in welchem Lager sie waren«, sagte Erika. »In Treblinka.«
Plötzlich verstand Saul, worauf Erika anspielte. Die Häftlinge von Treblinka hatten gegen ihre Bewacher revoltiert. Mit Schaufeln und Knüppeln bewaffnet, hatten mehr als fünfzig Häftlinge ihre Bewacher überwältigen und entfliehen können.
»Deine Eltern waren an dieser Revolte beteiligt?«
»Ja, erst in Warschau, dann in Treblinka.« Erika lächelte schwach. »Eines muß man ihnen lassen: Sie ließen sich nicht unterkriegen.«
Saul spürte, mit welchem Stolz sie das erfüllte. Er sah sie voller Verständnis an und drückte ihr die Hand. Dann ließ er seine Blicke weiter über die Fotos an der Wand gleiten.
»Dieses Thema hat ihn sein Leben lang nicht mehr losgelassen. Und du hast nicht das geringste davon gewußt.«
»Auch sonst hat niemand etwas davon geahnt. Er hätte sicher nicht beim Mossad bleiben können, wenn man dort von seiner zwanghaften Auseinandersetzung mit der Vergangenheit gewußt hätte. Von Fanatikern hält man dort nicht viel.« Plötzlich schien ihr ein beunruhigender Gedanke zu kommen.
»Was hast du denn?«
»Meine Mutter ist vor fünf Jahren gestorben. Damals hat mein Vater sich pensionieren lassen und ist von Israel weg hierher gezogen, um sich in aller Stille diesen Raum einzurichten.«
»Willst du damit sagen, daß deine Mutter es gewesen war, die bis dahin einen stabilisierenden Einfluß auf ihn ausgeübt hatte?«
»Ja, sie hatte ihm wohl geholfen, seine Manie einzudämmen. Doch als sie dann starb... «
»Konnte sich sein Wahn ungestört Geltung verschaffen.« Saul glaubte plötzlich unzählige Gespenster um sich zu spüren. »In seinem Innern muß es fürchterlich aussehen.«
»Falls er noch am Leben ist.«
»Dieser Raum... haben wir damit den Grund für sein Verschwinden entdeckt?«
»Und falls dem so sein sollte«, entgegnete Erika. »Wurde er entführt, oder ist er aus freien Stücken untergetaucht?«
»Wovor sollte er die Flucht ergriffen haben?«
»Vor seiner Vergangenheit.«
Erikas Miene verdüsterte sich, doch Saul waren die fürchterlichen Worte bereits über die Lippen gekommen. »Du glaubst doch nicht etwa an einen - Selbstmord?«
»Wenn jemand noch vor einer Stunde diese Möglichkeit in Betracht gezogen hätte, hätte ich das für vollkommen ausgeschlossen gehalten. Aber jetzt bin ich mir dessen keineswegs mehr so sicher. Dieser Raum... Seine Schuldgefühle müssen unerträglich gewesen sein.«
»Oder sein Haß gegen jene, denen er diese Schuldgefühle zu verdanken hatte.«
Auf dem Tisch
Weitere Kostenlose Bücher