Avalon 04 - Die Hüterin von Avalon
Verulamium.
Doch je weiter sie nach Norden kam, desto verhaltener wurden die Stimmen. Lhiannon war nun knapp über eine Woche unterwegs. Der Bauer, dessen Felder sie segnete zum Tausch gegen ein Bett und eine Mahlzeit, erzählte ihr, dass sie sich der Stelle nähere, wo die Straße von Isca die Straße aus Londinium kreuzte. Ein oder zwei Tagesreisen weiter nördlich lag die neue römische Festung bei Letocetum, welche die Legionssoldaten etwa eine Woche zuvor verlassen hatten.
Aber sie waren nicht über die Kreuzung gekommen. Sie warteten an diesem Hügel, dachte Lhiannon, an dem Coventa sie gesehen hatte. Aber wusste das auch Boudicca?
»Die Große Königin kommt über die Straße östlich von hier mit sämtlichen Kriegern Britanniens in ihrem Gefolge«, sagte der Bauer mit einer Mischung aus Stolz und Furcht. »Wenn du dich ihr anschließen willst, dann kommt mein Sohn Kitto mit dir. Er hat mich gebeten, ihn mit dem Heer ziehen zu lassen, und ich deute dein Erscheinen als ein Zeichen, dass er gehen soll …«
Die Große Königin … Mit Mühe gelang es Lhiannon, eine heitere, ruhige Miene zu bewahren. Denn dieser Titel barg mehr als nur eine Bedeutung. Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, wer es eigentlich war, der das Heer führte, und an welches Ziel?
Die Große Königin versammelt alle Tapferen
Um alle Macht aufzubieten
Um mit Speer, Schwert und Stock zu kämpfen
Und den Feind in die Flucht zu schlagen!
Aus einem der Wagen kam Gesang. Seit der Aufstand begonnen hatte, hörte man immer wieder Gesang. An diesem Abend jedoch kam er mal aus der einen, mal aus der anderen Richtung, immer neue Gruppen nahmen den Kehrreim auf. Boudicca kannte das von den Vögeln im Wald, die ihr Lied von einem Baum zum anderen tragen, etwa wenn eine Zugvogelschar eintrifft.
Seit der Zerstörung Verulamiums war etwas mehr als eine Woche vergangen. Die Britannier hatten die Ebene neben dem kleinen Fluss erreicht, als die Sonne sich senkte und das Funkeln der römischen Rüstungen auf dem Hügel über ihnen einfing, wo der Befehlshaber Stellung bezogen hatte und ihnen entgegensah. Boudicca hatte gehofft, sie auf ihrem Marsch überrumpeln zu können. Sie über den Hügel anzugreifen würde schwierig sein. Aber wenn die Römer die Sicherheit gesucht hätten, dann hätten sie Zuflucht in ihren Festungen genommen. An diesem Abend labten sich die Kelten an dem Ochsen, den die Druiden den Göttern geopfert hatten, die den Krieg regierten. Wenn sie die Römer am Morgen angriffen, dann würden diese ihnen vom Hügel her entgegenkommen – und der Gesang hätte ein Ende, so oder so.
Sie ist der Rabe, sie ist die Taube,
Der Rausch des Krieges und der Liebe …
So klang der Kehrreim durch die Nacht. Brangenos hatte ihn angestimmt, doch nicht alle Verse, die die Männer jetzt sangen, stammten von ihm. Das Lied ist ihm entglitten, dachte Boudicca, so wie mir das Heer entgleitet. Ich bin nicht ihre Führerin, sondern ihr Symbol … ihr Glückszeichen. So viel war ihr mittlerweile klar geworden. Und sie dachte nach: Der römische Feldherr konnte seine Truppen auch aus den hinteren Reihen heraus befehligen. Sie hingegen konnte ihre Krieger nur lenken, wenn sie die Spitze ihrer Speere war – und darin lag ihre einzige Hoffnung.
Aber wenn sie in den vorderen Schlachtreihen kämpfen musste – welche Hoffnung konnte sie dann haben, die Schlacht zu überleben? Die Frage schoss ihr mit einer Klarheit in den Kopf, die sie zwar überraschte, ihr aber keine Furcht einflößte. Ihr Leben wäre ein kleiner Preis gegen den Sieg. So viele Krieger, wie sie waren, stand die Zuversicht ihrer Männer wohl kaum in Zweifel. Und wenn die Römer sie besiegten? Dann würden sie eine Welt erschaffen, in der sie ohnehin nicht mehr leben wollte. Doch aus der Welt zu scheiden, die sie liebte, würde ihr sehr schwerfallen. Boudicca betrachtete ihre Männer, während der Wein herumgereicht wurde, die Gesichter erhitzt vom Licht des Feuers. Einige gehörten zu ihrem Leben, seit sie mit Prasutagos zusammengekommen war. Und andere waren ihr auf dem langen Marsch lieb und vertraut geworden. Argantilla saß neben Caw, den hellen Schopf an seinen dunklen gelehnt, während sie miteinander flüsterten. Rigana saß zu Tingetorix’ Füßen und lauschte seinen Kriegsgeschichten, von denen er endlos viele zu erzählen wusste. Brangenos sprach leise mit Rianor.
Die alte Sturmkrähe hatte viele Schlachten erlebt. Diese würde am Ende nur ein weiterer Vers in einem
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