Avalon 04 - Die Hüterin von Avalon
Sein wohlgenährter Leib war zerschunden, aber er lebte noch. Blut klebte in seinem grauen Haar und rann aus dem Mund, aus dem man die Zunge herausgeschnitten hatte.
Vordilic drehte sich um, als Boudicca näher kam. Es war nicht nur der Hass in ihren Augen, der den gekreuzigten Mann und seinen Peiniger als Verwandte auswies.
»Sieh da, Claudius Nectovelius, Sohn des Bracius …« Die blanke Gehässigkeit sprach aus jeder Silbe. »Magistrat von Verulamium. Ich habe ihm die Zunge entfernt, mit der er sein Volk und seine Götter verleugnet hat. Als Nächstes steche ich ihm vielleicht die Augen aus – und seine Hoden werden ihm keinen Tag länger mehr zunutze sein.«
»Gehörte er zu deiner Familie?«, fragte sie ruhig. Vom Torpfosten, wo eine Frau und zwei Kinder angebunden waren, drang ein Schluchzen.
»Meine Ahnen verleugnen ihn!«, fauchte Vordilic. »Soll er mit seinen römischen Freunden in den Hades gehen!«
»Dann soll es so sein!« Sie hörte diese Worte von außen und von innen. Und Vordilic erbleichte, als die Göttin in Boudicca fuhr. Mit einer gezielten Bewegung griff sie ein Schwert und stieß es durch Fleisch und Herz des Mannes sowie durch das Holz, auf dem er hing.
Die versammelte Menge johlte und jubelte, als der rundliche Körper zitterte und bebte und dann schließlich mit einer letzten krampfartigen Zuckung in sich zusammensackte. Doch der Teil von Boudicca, der das Geschehen aus ihrem tiefsten Innern verfolgte, wusste, dass der Schwertstoß ein Gnadenstoß war.
»Werft das Aasfleisch den Vögeln vor, und reinigt diesen Ort mit Feuer.« Die Stimme, die mit einem Mal harscher und nachhallender klang als ihre eigene, durchschnitt das Geplapper der Menge.
»Haben wir es gut gemacht, Königin?«, fragten Dutzende Stimmen gleichzeitig.
»Ihr habt getan, was ihr tun musstet«, tönte ihnen die Antwort entgegen. »Ihr seid mein Feuer, ihr seid mein Schwert, ihr seid mein Zorn … Aber versteht das eine …« Und ihr Blick schweifte durch die Runde der aufgeregten Gesichter, und sie verstummten. »Das Feuer, das euren Feind verbrennt, verbrennt auch euch, und der Strom aus Blut und Feuer wird nicht versiegen, bis er durch ganz Britannien geflossen ist.«
Die Morrigan deutete auf den schlaffen Körper am Tor. Aus der klaffenden Wunde in der Brust des Nectovelius rann Blut, zog eine kräuselige Spur über das fahle Fleisch und tropfte auf den dreckigen Boden. »Euer Blut oder ihres – alles Blut tränkt den Boden.«
»Dann lasst alles Blut fließen«, schnaubte Vordilic und stürzte sich blutrünstig auf die Frau neben dem Tor. Hunderte von Kehlen schrien ihm entgegen, und Keulen und Schwerter wirbelten durch die Luft.
»Finden auch sie deine Gnade?«, hörte Boudicca ihre innere Stimme sagen.
»Hättest du dir diese Gnade nicht selbst gewünscht, als du deinen König verloren hast?«, antwortete die Stimme. Die nachfolgende Welle des Schmerzes stieß Boudicca mit einem aufgewühlten Schluchzen zurück in ihren Körper.
Sie holte tief Luft, starrte um sich. Eine feuerhaarige Göttin, rot von Blut, wandte sich ab von den zerschundenen Körpern am Tor. Und plötzlich wurde sie geschüttelt von der Erkenntnis, und Feuer schoss durch ihre Adern. So also sehen sie mich, bevor sie sterben …, sagte die Göttin in ihr. Boudicca schloss die Augen, benommen von der Kraft dieser Vision.
Als sie sie einen Atemzug später öffnete, war sie wieder Herr ihrer Sinne und erkannte voller Schreck, dass die Gestalt, die vor ihr stand, Rigana war.
»Was tust du hier? Geh fort …« Den Rest ihrer Worte verbiss sie sich, als sie zorneswütigen Kampfgeist in den Augen ihrer Tochter flackern sah. »Rigana …« Ihre eigene Stimme klang ihr fremd in den Ohren. »Rigana, es ist vorbei. Komm wieder zu dir, mein Kind …«
Der Gedanke war ihr eigener, aber es war die Göttin, die Kraft in ihre Worte legte. Sie murmelte weiter und weiter, während das Feuer in Riganas Augen langsam verlosch, bis sie wieder das junge Mädchen war. Ihre Augen weiteten sich vor Beunruhigung, als sie begriff, wer und wo sie war. Doch das letzte Opfer schien auch die Blutgier der Meute gestillt zu haben, die jetzt mehr auf Beute aus war denn auf Rache.
In dieser Nacht war die Ver unterhalb der Stadt ein roter Strom.
»Rigana, ich muss mit dir reden …« Boudicca nahm ihre Tochter beim Arm und setzte sich mit ihr und Argantilla ans Feuer. Die Britannier lagerten in Zelten und Wagen gleich hinter Verulamium, wo die Asche noch glühte. Sie
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