Avalon 04 - Die Hüterin von Avalon
lebendig und wohlbehalten. Geschnitzt hatte er schon als Junge gern. War es ein Zeichen von Zufriedenheit, dass er das ausgerechnet auch jetzt tat, oder war er von der derzeitigen Lage derart entmutigt, dass er sich mit nichts anderem ablenken wollte? Ja, wahrscheinlich Letzteres, dachte sie, während sie weiter auf ihn zuging. Er schnitzte Vögel.
»Wohin werden die denn fliegen, wenn du sie fertig hast?«, fragte sie leise.
Einen Augenblick lang war er starr vor Staunen, und sie bemerkte, wie seine Fingerknöchel weiß wurden, so fest umklammerten sie das Schnitzmesser. Langsam und bedächtig ließ er es los, legte es aus der Hand und blickte dann erst auf.
Was, mein Liebster, wollen deine Augen mir verbergen?, fragte sie sich. Sie schimmerten feucht, aber er war zu stolz, sie trocken zu wischen. Sie kniete sich neben ihn und nahm einen der geschnitzten Vögel hoch.
»König Antedios hat eine kleine Tochter«, sagte er fast tonlos. »Das sind Wasservögel, die sie in den Bach setzen kann …«
»Und vom Bach schwimmen sie in den Fluss und dann weiter ins Meer; und von dort gelangen sie schließlich bis zu den Heiligen Inseln. Verstehe.«
»Ging alles gut?« Er pflückte ein Blatt weg, das sich in ihrem Gesichtsschleier verfangen hatte, berührte sie dabei zärtlich, strich ihr eine Strähne aus der Stirn und ließ seine Hand an ihrer Wange ruhen.
»Ja, sehr gut, sowohl für Boudicca als auch für mich, obwohl – oder vielleicht gerade weil – wir ganz allein waren. Ardanos, als ich dieses Mal den Tor hinaufgestiegen bin, habe ich den inneren Pfad beschritten! Ich muss es dir erzählen …«
»Aber nicht hier!«, sagte er bestimmt. »Das würde die Erinnerung daran entweihen. Warte, bis wir auf dem Rückweg sind. Nun, da du gekommen bist, können wir auch zusammen zurückkehren.«
»Ardanos!«, rief sie, wusste nicht, ob sie sich ärgern oder lachen sollte. »Ich bin drei Wochen lang geritten. Boudicca ist ja auf dem Pferderücken groß geworden, sie war gleich wieder daran gewöhnt. Aber ich nicht. Ich werde mich nicht wieder in den Sattel schwingen, nicht einmal für dich, bevor mein wund gesessener Hintern nicht wieder verheilt ist. Und ganz abgesehen davon, muss ich warten, bis Boudicca …«
»Das ist mir egal! Ich will dich von hier fort- und in Sicherheit bringen.« Er schüttelte den Kopf. »Binde dir wenigstens ein Tuch um die Stirn, solange du hier bist, um die blaue Sichel darauf zu verdecken!«
Lhiannon runzelte die Stirn. »Dieses Zeichen tragen in unserer Gemeinschaft nur die, die ihre Weihe in Avalon empfangen haben. Die Römer wissen bestimmt nicht, was es damit auf sich hat.«
»Es sei denn, jemand klärt sie auf …« Er machte ein finsteres Gesicht. »Hier gibt es viel zu viele, die sich in die Gunst all jener einschmeicheln, die römische Privilegien vergeben. Binde dir also bitte ein Tuch um, oder trage einen Gesichtsschleier.«
»Und was ist mit dir?«, fragte sie säuerlich. »Dich mit deiner kahl geschorenen Stirn erkennen sie mit Sicherheit als Druiden.«
»Inzwischen weiß hier jeder, wer ich bin«, erwiderte er mit einem Schulterzucken. »Und wenn ein Römer in die Nähe kommt, dann setze ich eine Mütze auf.«
»Dann sieh zu, dass du sie auch aufbehältst.« Sie rutschte näher an ihn heran. »Und da ich eine Weile hierbleiben muss, nehme ich an, du erzählst mir, wer uns in diese unheilvolle Lage gebracht hat und was deiner Meinung nach nun werden soll.«
Zum Lugos-Fest hatte immer ein Viehmarkt gehört, auf dem Tiere verkauft und gekauft wurden, um mit neuen Zuchttieren den eigenen Herdenbestand zu verbessern. Auch die gackernden Dienstmägde laufen durcheinander wie eine Herde Vieh, dachte Boudicca bei sich – und der Vergleich schien ihr unangenehm passend, als sie im Zelt ihrer Eltern stand, wo tausend Hände sie wuschen, einölten, kämmten und schmückten, während ihre Mutter das Geschehen dirigierte. Am liebsten hätte sie sich fluchtartig aus dem Staub gemacht. Doch das war nicht nötig, denn sie wusste, dass Lhiannon und Ardanos sie jederzeit nach Mona bringen würden, sollte sie sich für ein Leben dort entscheiden.
»So, jetzt, mein Liebling.« Ihre Mutter trat einen Schritt zurück, musterte sie. »Jetzt siehst du aus wie eine Frau aus königlichem Hause.« Sie hielt ihr einen bronzenen Spiegel hin, auf dessen Rückseite zierliche Schnörkel und Rankenmuster eingraviert waren.
Freilich, auf Mona war das Einzige, was einem Spiegel so halbwegs gleichkam,
Weitere Kostenlose Bücher