Avalon 04 - Die Hüterin von Avalon
Leucu. »Wenn wir das Zelt deines Vaters noch vor dem Abendessen erreichen wollen, dann müssen wir uns sputen.«
Mit einem Ruck riss er das Pferd herum, gab ihm die Sporen, und sie setzten ihren Weg fort über den Pfad, der zur einstigen Feste des Königs Cunobelin führte. Doch die Festung gab es nicht mehr. Die Römer hatten sämtliche Gebäude – die der ganze Stolz des alten Königs gewesen waren – zuerst geplündert und anschließend niedergebrannt. Und die Stammesführer, die daraufhin gekommen waren, um mit dem Kaiser Frieden zu schließen, kampierten nun in Zelten auf den Feldern rings um Camulodunon.
Zweifelsohne würde Leucu froh sein, die Verantwortung für die Tochter seines Stammesführers wieder abgeben zu können. Auf der dreiwöchigen Reise durch Britannien waren seine Nerven zum Zerreißen gespannt gewesen, was ihn Schlaf gekostet und gereizt gemacht hatte. Aber erst die letzten paar Tage waren sie auf römische Spähtrupps gestoßen, das letzte Mal an einer Durchgangsstelle im Schutzwall vor Camulodunon, welcher die Feste letztlich doch nicht geschützt hatte. Man hatte sie passieren lassen. Offenbar schienen zwei Frauen und ein alter Mann keine Bedrohung für die Legionssoldaten, die den Kaiser umgaben.
»Das Ganze gefällt mir trotzdem nicht«, sagte Boudicca, während sie durch das Weideland ritten.
»Was? Hast du etwa Angst vor den Elefanten?«, fragte Lhiannon.
»Nein«, rief Boudicca empört. »Ich will eigentlich nur nach Hause kommen!« Auf der Reise durch Britannien, als sie nach all den Jahren endlich wieder die Freuden des Reitens genoss, hatte sie in Erinnerungen an die sanft hügeligen Auen geschwelgt, auf denen die Icener ihre Pferde züchteten. »Stattdessen kehre ich heim, um gerade noch mitzubekommen, wie mein Vater sich den Römern ausliefert!«
Die römischen Truppen in Camulodunon waren wie Speere, die mitten ins Herz all der Länder zielten, die einst unter Cunobelins Herrschaft gestanden hatten. Aber würden sich die Römer unterwerfen? Oder würde sie schon bald in Ketten auf einem Schiff nach Rom unterwegs sein? Wie eingeschränkt das Leben bei den Druiden auch gewesen sein mochte, immerhin war es ein freies Leben gewesen. Sie hatte versucht, Lhiannon zu überreden, besser nicht mitzukommen, aber die Priesterin war nicht umzustimmen gewesen. Vielleicht auch deshalb, weil sie von den Kriegern wusste, dass Ardanos noch immer dort weilte.
Nachdem sie querfeldein über das weite Land geritten waren, bogen sie auf einen Pfad, der zwischen den Feldern hindurchführte. Der sprießende Weizen war niedergetrampelt, nur noch ein paar wenige Büschel standen, die die Vögel abernteten. Auch das Vieh war verschwunden. Kein Zweifel – es hatte den römischen Soldaten als Siegesmahl gedient.
Ein Bach, dessen Ufer von einer Weißdornhecke gesäumt war, umfloss das Gelände um die einstige Feste. Doch die Rundhäuser, deren spitze Dächer die Hecke sonst hoch überragt hatten, waren verschwunden. Es war jetzt einen Monat her, da die Römer die Festung niedergebrannt hatten, aber noch immer hing ein beißender Rauchgestank in der Luft. Trotzdem stand auf den Feldern hinter dem Gelände ein bunter Haufen von Zelten – wie für ein verspätetes Lugos-Fest, dem Mittsommerfest zum Erntebeginn. Die Stammesführer, die zur Verteidigung Camulodunons zu spät gekommen waren, waren nun hier, um sich ihren Eroberern zu unterwerfen.
Kaum ritten sie ins Lager ein, kamen Leute aus den Zelten, um zu sehen, wer die Ankömmlinge waren. Und schlagartig wurde Boudicca bewusst, wie sie auf all die Leute wirken musste – eine langbeinige, sommersprossige junge Frau mit einer rotgoldenen Mähne in einer ungefärbten Leinentunika, die von der wochenlangen Reise verdreckt und am Saum ausgefranst war. In einem schlunzigen Aufzug durch das Land zu reisen war zwar eine ganz praktische Tarnung, hier aber, wo die Kleider verrieten, wer man war, schickte sich das weniger.
Die einzelnen Zeltgruppen waren mit Pfählen abgesteckt, an denen Fahnen flatterten, und sie hielt Ausschau nach der rotgelben Fahne ihres Stammes mit dem springenden weißen Hasen darauf. Vielleicht erkennen mich meine Eltern ja gar nicht, dachte sie verdrießlich. Dann bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als mit Lhiannon wieder zurück nach Mona zu gehen …
Umringt von zahllosen Leuten in leuchtend bunten Gewändern, musste sie an sich halten, um nicht auf der Stelle umzudrehen und zurückzureiten.
Lhiannon sah, wie sie sich die
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