AvaNinian - Drittes Buch (German Edition)
nichts sehen, aber er hörte das verzweifelte Drängen in ihrer Stimme und warf sich gegen das Boot. Er legte alle Angst und Wut hinein, die ihn ihm brodelten, einmal und noch einmal ...
Krachend kam der Kiel frei und das Boot schoss, von den Wassermassen getrieben, nach vorne.
Jermyn verlor den Halt und hing nur noch mit einer Hand am Boot. Ninian ließ die Stange los, fiel auf die Knie, krallte ihre Finger in seinen nassen Kittel und zerrte ihn ins Boot. Der Ast schoss vorbei und Jermyn schrie auf. Das Holz hatte seinen Rücken um Haaresbreite verfehlt, aber in seiner Wade klaffte eine lange, blutige Schramme.
Erst als er schwer atmend im Bilgenwasser lag, fiel Ninian der Rest des Riemens ein, ihre einzige Möglichkeit, das Boot zu steuern. Wild schaute sie sich um. Die Stange schwankte gefährlich auf der Ruderbank und dem Bootsrand hin und her. Bei der nächsten Kapriole würde sie über Bord gehen - keinen Augenblick zu früh warf Ninian sich auf das Holz, schon trieben sie auf den nächsten Felsen zu.
Während sie das Boot mit dem abgebrochenen Ruder von den Steinen fernhielt, drehte sie sich zu Jermyn um.
Mit hängendem Kopf kauerte er hinter ihr, reglos, nur seine Schultern zuckten.
»Bist du in Ordnung?«, rief sie über das Brausen des Wassers hinweg. Er rührte sich nicht.
»Jermyn ...«
Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und sah auf.
»Jedenfalls bin ich nicht ertrunken«, ein Schauder überlief ihn und er spuckte in das schäumende Wasser. Ninian lachte vor Erleichterung auf.
»Nein, du hast uns gerettet, ohne dich wären wir auf diesem widerwärtigen Ding verhungert.« Sie schüttelte sich. »Ich frage mich, woher es ...«
Sein Gesicht gefror zu einer Grimasse, er starrte über ihre Schulter hinweg.
»Jetzt bist du dran«, schrie er mit verzweifeltem Galgenhumor, »ich will schließlich nicht die ganze Arbeit allein machen!«
Ninian fuhr herum und schnappte nach Luft.
Vor ihnen zwängte sich das Wasser zwischen den steilen Ufern und zwei mannshohen Felsen hindurch, die sich in der Mitte des Flussbettes erhoben. Kein Durchlass war breit genug für den Kahn. Ninian spürte den feinen Wasserstaub im Gesicht, der von den anprallenden Wogen aufstieg. Gleich würde das Boot an den scharfkantigen Klippen zerspringen ...
»Macht Platz! Auseinander! Lasst mich durch!«
Ohne zu überlegen hatte sie ihren Befehl hinausgeschrien, schrill gellte er über das Tosen des Flusses.
Oh, Mutter, hilf mir!
Zu mehr reichte die Zeit nicht und einen furchtbaren Augenblick lang glaubte sie, die Felsen wären ebenso feindlich wie jener andere.
Aber sie bewegten sich doch. Das Wasser wälzte sich durch die erweiterte Lücke und trug das Boot auf seinem Nacken zwischen den Felsen hindurch, so dicht, dass sie den bunten Flechtenbewuchs auf den schwarzen Felsen hätten berühren können. Einmal stieß es an und hing einen Moment, es knirschte herzzerreißend und sie hielten beide den Atem an, aber der Kahn kam wieder frei und schoss weiter.
Dann war es vorbei und sie glitten in ruhigeres Fahrwasser. Wie Wächter hatten die Klippen am Ende der Stromschnellen gestanden, das Gelände wurde flacher, das Flussbett breiter. Nur vereinzelt lagen noch Felsen im Wasser und schließlich verschwanden sie ganz.
Der Fluss führte immer noch viel Wasser, aber das Boot schwankte nicht mehr so heftig und nach dem Hexenkessel der Stromschnellen fühlten sie sich beinahe sicher.
Ninian zog die Stange ein und ließ sich neben Jermyn ins Boot fallen.
Eine Weile lagen sie dort bewegungslos, zu erschöpft, um noch Angst zu haben, und starrten in den Himmel hinauf, der wieder klar geworden war. Wolkenfetzen und die schwarzen Silhouetten überhängender Zweige zogen in schnellem Lauf über sie hinweg, es war beruhigend, hinaufzusehen und sich treiben zu lassen.
Aber die durchnässten Kleider klebten ihnen am Leib und bald klapperten sie beide mit den Zähnen. Ninian setzte sich auf.
An den Ufern breitete sich Wald aus, so weit sie sehen konnte. Die Bäume wuchsen bis an den Rand des Stromes, ihre Äste hingen tief über dem Wasser, belaubte Zweige trieben in der Strömung wie die langen, grünen Haare eines Wasserweibes.
Der Wald war nicht dicht, soviel konnte sie erkennen, aber das Tageslicht drang nur noch schwach durch das frühsommerliche Blätterdach, zwischen den Stämmen herrschte schon die abendliche Düsternis. Der Fluss glitt eilig weiter und trug sie fort vom Ouse-See und den von Menschen bewohnten
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