AvaNinian - Drittes Buch (German Edition)
ihr in Strömen über den Rücken, als sie sich auf den untersten Ast schwang und sie war dankbar für den kräftigen Wind, der an diesem Tag durch den Wald fuhr.
Oben angekommen, band sie das Seil um einen schenkeldicken Ast und warf es Jermyn zu, der ungeduldig am Fuß des Baumes wartete. Nachdem er sich gesichert hatte, begann er den Aufstieg und obwohl er ihn ohne Hilfe bewältigte, war auch er schweißnass, als er bei ihr anlangte, und so blass, dass sie erschrak. Er schnitt ihre besorgten Worte mit einer unwirschen Handbewegung ab und nach einer kurzen Verschnaufpause kletterten sie bis in die Spitze des Baumes. Sie klammerten sich an die gefährlich dünnen Äste und bogen das dichte Laubwerk auseinander.
Um sie her erstreckten sich Baumkronen, unübersehbar, schwankend und rauschend wie das Meer. Die Sonne vergoldete die Blätter der zunächststehenden Bäume, aber in der Ferne verschwamm das dunkle Grün einer immer noch sommerlichen Belaubung mit dem rauchigen Blau des Horizonts. Ninian wunderte sich, aber bevor sie etwas sagen konnte, rief Jermyn:
»Siehst du den See?«
Sie beschattete die Augen und sah sich nach allen Seiten um, aber nirgendwo glitzerte der Wasserspiegel des Ouse-Sees.
»Ich hätte nicht gedacht, dass wir uns so weit vom Fluss entfernt haben. Wir haben den See doch gesehen, kurz bevor mich dieses Vieh gebissen hat ...«
»Vielleicht liegt Tidis Haus in einer Senke«, sie hatte Mühe, das Rauschen des Windes zu übertönen und hielt sich krampfhaft an den dünnen Ästen fest.
»Jetzt gib schon Ruh«, befahl sie ärgerlich, »mir wird noch übel von dem Geschaukel.«
Gehorsam legte sich der Wind und sie ließen ihre Blicke schweifen, aber der Wald dehnte sich bis an den Fuß eines Gebirges, dessen schimmernde Gipfel sich weit im Westen erhoben.
Als sie sich durch das Astwerk zurückgearbeitet und abgeseilt hatten, saßen sie eine Weile am Fuß des Baumes, um auszuruhen.
»Schlapp wie nasse Lappen«, urteilte Jermyn vernichtend, »wir werden ganz schön arbeiten müssen.« Er untersuchte die blassrosa verheilte Wunde. Durch die ungewohnte Beanspruchung schmerzte die Ferse, aber das Narbengewebe war glatt und ungerötet.
»Tidis ist eine Meisterin«, er nickte zufrieden, »ich malte mir schon aus, wie es wäre, wenn ich nie wieder klettern könnte. Zu meiner Erbauung und um mich ruhigzustellen, hat sie mir erzählt, dass ich den Fuß beinahe verloren hätte.«
»Nicht nur den Fuß«, entfuhr es Ninian. Sie schauderte und Jermyn zog sie an sich. Eine Weile saßen sie schweigend, ohne sich zu rühren, dankbar, dass sie noch einmal davongekommen waren.
»Der See wird in Richtung der Berge liegen, die wir gesehen haben«, meinte Jermyn schließlich, »aber ich denke, wir werden noch einige Zeit bleiben müssen. Ich habe nicht vor, mich als halber Krüppel in die Stadt zu schleichen. Außerdem scheinen wir ja einen ganz netten Marsch vor uns zu haben und das schaffe ich noch nicht.«
Er bedachte seinen Fuß mit finsterem Blick.
»Macht es dir etwas aus, dass wir noch nicht zurück können?«, fragte Ninian zögernd, aber zu ihrer Freude schüttelte er den Kopf.
»Nein, stell dir vor. Ich weiß nicht warum, aber im Augenblick fühle ich mich sauwohl«, er räkelte sich behaglich und Ninian lachte.
»Du weißt nicht warum? Na, hör mal«, spottete sie, »du wirst vorne und hinten verwöhnt, liegst den ganzen Tag in deiner Hängematte, wirst mit den erlesensten Köstlichkeiten gefüttert und aufs Beste unterhalten.«
Tidis hatte begonnen, ihnen, sozusagen als Gegenleistung, Geschichten aus ihrem eigenen, bewegten Leben zu erzählen, und es war ihnen schon klar geworden, dass sie viel mehr war als ein einfaches Kräuterweib.
»Du wirst jedenfalls fett und behäbig«, fuhr Ninian fort und kniff ihn keineswegs sanft in den Bauch, »und«, sie rollte schnell aus seiner Reichweite, »du vernachlässigst deine Pflichten.«
»Ach nee ... he, hiergeblieben!«
Sie hatte seine Beweglichkeit unterschätzt und wand sich kichernd in seinem unbarmherzigen Griff. Er wälzte sich auf sie und drückte sie zu Boden.
»Was soll das heißen, ich vernachlässige meine Pflichten, du dreistes Gör?«
Die schwarzen Augen glitzerten. Ninian wehrte sich nicht, herausfordernd sah sie ihn an. Sein Gesicht war so nah, dass sie seinen Atem auf ihrem Mund spürte.
»Nun, du hast mich schon lange nicht mehr, hm, beglückt. Ich weiß schon gar nicht mehr, wie es sich anfühlt. Aber vielleicht bist du immer
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