AvaNinian - Drittes Buch (German Edition)
»aber von dem anderen habe ich nie gehört. Woher weißt du das alles?«
»Och«, der Schaukelstuhl knarrte wieder, »ich sagte doch, man kommt so herum. Ich habe gelehrte Männer getroffen, die in der Geschichte des Landes bewandert sind und gerne davon erzählen.«
»Tatsächlich? Es klang, als hättest du es mit eigenen Augen gesehen«, kam Jermyns Stimme aus der Dunkelheit.
Die darauf folgende Stille dehnte sich und plötzlich lag eine greifbare Spannung in der Luft. Dann antwortete Tidis leichthin: »Ich habe eben eine lebhafte Phantasie, mein Junge. Wenn man soviel allein ist wie ich und so eintönig lebt, neigt man dazu, sich Geschichten auszudenken. Und nun reicht es für heute Abend.«
Der Schaukelstuhl knirschte ärgerlich, als sie sich erhob.
»Morgen wartet viel Arbeit auf mich. Und du solltest sehen, dass du wieder auf die Beine kommst, mein Lieber, ein kleiner Marsch wird dir gut tun. Frühstück gibt’s morgen bei Sonnenaufgang.«
Damit stapfte sie davon.
»Du warst vorlaut und hast sie verärgert«, sagte Ninian vorwurfsvoll, »jetzt müssen wir morgen früh aufstehen, wenn wir etwas zu essen haben wollen.«
»Kann schon sein«, erwiderte Jermyn ungerührt, »aber es stimmte doch, oder?«
»Ja«, Ninian nickte nachdenklich und löschte den Docht der Bilha, »ich habe es genauso empfunden. Sie ist eine rätselhafte Person.«
In den folgenden Tagen erkundeten sie die Umgebung von Tidis einsamer Klause. Wie Ninian vermutet hatte, lag sie in einer Senke wie auf dem Grund einer weiten Schüssel und sie mussten die steilen, bewaldeten Hänge erklimmen, um sich einen Überblick zu verschaffen. Die Hoffnung, einen Blick auf den Ouse-See zu erhaschen, trieb sie an. Er würde ihnen die Richtung zurück nach Dea weisen.
Aber noch war es nicht soweit, Jermyns Fuß blieb empfindlich. Wenn er ihn zu sehr belastet hatte, schmerzte die Narbe so, dass er nicht schlafen konnte. Sie mussten sich Zeit lassen und Ninian war nicht traurig darüber. Dank der täglichen Übungen und einer Salbe aus Eichenrinde, die das neue Gewebe kräftigen sollte, machte er schnelle Fortschritte und allmählich dehnten sie ihre Ausflüge weiter aus.
Der Wald war schön, es gab wenig Unterholz und zu Füßen der hohen Bäume breiteten sich Teppiche von weißen und gelben, sternförmigen Blüten aus. Üppige Mooskissen bedeckten den Boden und die Felsen, die zwischen den Stämmen verstreut lagen, Überreste von jenem gewaltigen Einschlag, den Tidis so farbig beschrieben hatte. Kleine Bäche rannen durch ihre steinigen Betten und die beiden Wanderer folgten ihnen, weil sie hofften, auf diese Weise den Fluss wiederzufinden. Aber das Wasser versickerte in der schwarzen Walderde oder sammelte sich in kleinen, dunklen Tümpeln.
Es verdross sie nicht weiter. Sie streiften durch den Wald, erklommen ab und zu einen Baum oder einen Felsen aus Freude an Jermyns wachsender Beweglichkeit. Nicht selten aber lagen sie stundenlang auf einer Lichtung in der Sonne.
Zu Ninians großer Freude schien Jermyn tatsächlich Gefallen an diesen Streifzügen zu finden. Er schimpfte nicht mehr über den Ausflug in die Wildnis, ja es war beinahe, als beginne er, die Große Stadt zu vergessen. Sie sprachen selten von ihrem Leben dort, sondern über ihre seltsamen Kräfte und die Erlebnisse im Haus der Weisen. Zu ihrer eigenen Überraschung erzählte Ninian viel von Tillholde.
»Ich würde sie gern mal sehen, die beiden«, meinte Jermyn nachdenklich, nachdem sie ihre exzentrischen Tanten beschrieben hatte. »Du scheinst sie ja nicht gerade zu lieben.«
»Nein, tu ich auch nicht und ich werde mich hüten, dich zu ihnen zu bringen. Du würdest mit Eyra streiten und dich in Lalun verlieben, und beides würde mir nicht gefallen«, erwiderte Ninian.
»Das glaubst du selbst nicht. Warum sollte ich mich in eine alte Frau verlieben?«
»Alte Frau? Du kennst Lalun nicht, sie ist keine alte Frau. Sie sieht keinen Tag älter aus als Isabeau, das Miststück, und sie ist viel schöner. Und wenn sie will, bringt sie dich dazu, mich zu vergessen. Sie hat mir selbst erzählt, dass ein Mann für sie seine fürstliche Braut nicht nur am Tag vor der Hochzeit verlassen hat, sondern auch noch ihren Mondenschleier gestohlen hat.«
»Sehr geschickt, aber ich glaube nicht, dass ihr das bei mir gelungen wäre.«
Ninian sah seine Augen auf sich gerichtet, hart und glänzend wie schwarzes Glas. Sie spürte die Macht hinter diesem Blick und wusste, dass sie vom höchsten
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