AvaNinian - Drittes Buch (German Edition)
Fuß.«
Das stimmte, sie war lange nicht so hinfällig, wie es bei ihrer ersten Begegnung im Wald den Anschein gehabt hatte. Sie hielt sich aufrecht und auch die Runzeln musste Ninian sich eingebildet haben - das braune Gesicht war erstaunlich glatt. Ninian betrachtete es nachdenklich, aber Jermyn meinte mit vollem Mund:
»Hör auf zu meckern, das gehört sich nicht.«
Ninian schnitt ihm eine Grimasse. Sie hatten ihre kleinen Sticheleien wieder aufgenommen, aber es fehlte ihnen die Schärfe und Bitterkeit, die sich in Dea eingeschlichen hatten. Wenn Tidis Zeugin ihrer Wortwechsel wurde, wanderten ihre Augen belustigt von einem zum anderen, die Lachfältchen vertieften sich und oft schmunzelte sie in sich hinein.
Tagsüber ging sie ihrer Arbeit nach, doch abends nach dem Essen setzte sie sich zu ihnen, um zu schwatzen. Es war so milde, dass sie einen alten Schaukelstuhl unter den Baum gestellt hatte, an dem Jermyns Hängematte hing. Sanft schaukelnd hörte sie den Geschichten der jungen Leute zu.
Zu Ninians Verwunderung redete Jermyn ganz unbekümmert von ihrem Leben in Dea, von Gladiatoren- und Hahnenkämpfen, von den Gesetzlosen in den dunklen Vierteln, ja sogar von ihrem eigenen Treiben. Ninian beobachtete Tidis heimlich, aber die alte Frau zeigte weder Verwunderung noch Abscheu. Sie nickte nur, als höre sie nur lang Bekanntes. Als sie nach solch einem Abend in dem duftenden Heu lagen, fragte Ninian:
»Ist es nicht gefährlich, wenn du so viel von uns erzählst?«
Sie spürte, wie er unter ihrem Kopf mit der Schulter zuckte.
»Warum? Sie lebt hier in der Einsamkeit, aus der sie höchstens mal nach Neri kommt. Glaubst du, sie läuft zum Bürgermeister und erzählt ihm, dass wir zwei berüchtigte Fassadenkletterer sind?«
»Du könntest sie alles vergessen lassen, wenn wir wieder weg sind.«
Es war ihr herausgerutscht und sie biss sich auf die Lippen. Vom Weggehen hatte sie nicht sprechen wollen, aber er ging nicht darauf ein.
»Ja, das könnte ich wohl«, antwortete er ausweichend, »aber ... ach, ich weiß nicht ...«
Er schwieg und Ninian hütete sich, dies heikle Thema zu vertiefen.
Jermyn war sich über Tidis nicht im Klaren. Sie schien eine rüstige, alte Frau zu sein, eine Heilerin und Kräuterweise, wie Ninian sie nannte. Aber er nahm noch etwas anderes an ihr wahr, etwas, das ihm fremd war.
Von seiner Hängematte aus beobachtete er sie, wenn sie sich über die Gemüsebeete beugte oder sich an den Bienenstöcken zu schaffen machte. Es wäre ein Leichtes, in ihren Geist einzudringen, um sie auszuspionieren, aber ein schlechter Dank für ihre Hilfe und Gastfreundschaft. Sie hatte ihm das Leben gerettet.
Einmal hatte sie seinen Blick aufgefangen, als sie sich, eine Hand im Rücken, von ihrer Arbeit aufrichtete, und in ihren hellbraunen Augen hatte er eine deutliche Warnung gelesen.
Halte dich fern von mir, um deiner selbst willen.
Im Allgemeinen ließ er sich nicht einschüchtern, aber mit Tidis war es anders.
Auch Ninian machte sich Gedanken über die Waldfrau. Wenn Jermyn schlief und ihr bei all dem Nichtstun langweilig wurde, ging sie Tidis in der Küche zur Hand und mehr als einmal glaubte sie, Mitleid im Gesicht der alten Frau zu erkennen.
Es gab keinen Grund dafür. Jermyns Wunde heilte gut, sie verstanden sich besser als je zuvor, und sie war mit sich und der Welt im Reinen.
Tidis aber war zufrieden. Wie sie gehofft hatte, waren die beiden gute Unterhaltung in ihrer unbekümmerten, rücksichtslosen Jugend. Sie genoss es, für jemanden zu sorgen, ohne eine schmerzliche Trennung fürchten zu müssen und Erinnerungen konnte man verdrängen. Wenigstens für eine Weile.
Eines Tages erklärte sie, Jermyn müsse lernen, seinen verletzten Fuß zu belasten und ohne Krücken zu gehen. Am Anfang war er recht wackelig auf den Beinen und verlor zu seinem Ärger mehr als einmal das Gleichgewicht. Aber er übte verbissen, nach wenigen Tagen hatte er die Unsicherheit überwunden und machte sich an die nächste Aufgabe.
»Lass uns klettern, ich will sehen, wie weit ich komme.«
Er hatte im Liegen mit Tidis’ Gewichten geübt und sie liehen sich von ihr ein Seil. Da es keine Felsen gab, versuchten sie sich an den Baumriesen vor ihrer Hütte.
Ninian kletterte voraus, um das Seil zu befestigen. Der glatte, graue Stamm stand den steinernen Wänden der Großen Stadt in nichts nach, sie musste mit den winzigen Buckelchen und Höhlungen in der seidig schimmernden Rinde zurechtkommen. Der Schweiß lief
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