AvaNinian - Drittes Buch (German Edition)
Gipfel dieses Waldes springen würde, wenn er es befahl. Niemand würde ihn so leicht dazu bringen, etwas gegen seinen Willen zu tun, und nicht einmal Lalun könnte ihn davon abhalten, sie zu lieben.
»Mag sein«, sagte sie und schloss glücklich die Augen.
Es gab einen Ort, den sie besonders mochten. Sie hatten ihn entdeckt, nachdem sie solange nach Westen gegangen waren, bis der Wald endete. Ein einzelner Baum stand wie ein Vorposten auf einer kleinen Anhöhe und von seinem Fuß fiel das Land sanft ab in die waldlose Ebene, durch die der Fluss wie ein glänzendes Band lief. Auf der anderen Seite stiegen die Hänge wieder an, auch sie dunkel bewaldet, und darüber erhoben sich, verschwimmend im bläulichen Dunst, die Berge. Flussaufwärts aber hatten sie weit in der Ferne ein kurzes Aufblitzen gesehen, als fiele ein Sonnenstrahl auf eine spiegelnde Scherbe.
»Der See«, hatte Ninian bestürzt gemurmelt. »Ich kann nicht glauben, dass wir dich soweit geschleppt haben.«
Gegen den einsamen Baumriesen gelehnt hatten sie über das friedliche Land geblickt und waren seitdem immer wieder an diesen Ort zurückgekehrt. Auch an diesem Tag saßen sie in dem weitausladenden Schatten, aber ihre Stimmung war ein wenig gedrückt.
»Warum muss man Bienen halten?«, knurrte Jermyn und betrachtete missmutig zwei rote Schwellungen an seinem Unterarm.
Dicht verschleiert hatte Tidis am Morgen begonnen, Honig zu schleudern. Aufgescheucht waren die Bienen durch den Garten geschwirrt, und als Jermyn aus der Schlafkammer trat, hatten ihn die gereizten Tiere zweimal gestochen.
»Du isst auch gerne Honigkuchen«, erwiderte Ninian abwesend.
»Kann ich mich nicht dran erinnern«, behauptete er eigensinnig. Ninian, deren Rücken von ungewohnter Arbeit schmerzte, machte keinen weiteren Versuch, ihn zu besänftigen.
Am Tag zuvor war es schwül und drückend gewesen, ein pochender Schmerz in Jermyns Wunde hatte ihn gezwungen zu hinken und auf Tidis’ Befehl hatten sie den Tag in der Hängematte verbracht.
Am Nachmittag war Tidis erschienen, hatte seufzend zum Himmel geblickt und sich daran gemacht, Unkraut zu jäten und die abgeernteten Beete von vertrocknetem Kraut zu säubern. Ab und zu hatte sie sich aufgerichtet, die Hand in den Rücken gedrückt und sich den Schweiß von der Stirn gewischt.
Ninian hatte ihr zugesehen und plötzlich hatte vor ihren Augen das Bild harter Arbeit gestanden, die jahraus, jahrein getan werden musste. Waren Obst und Gemüse reif, mussten sie geerntet und verarbeitet werden, wollte man die kalte Jahreszeit überstehen. Sie selbst hatte im Winter über die karge, eintönige Kost gejammert und sich doch nie Gedanken darüber gemacht, woher sie kam und dass sich viele Menschen unermüdlich dafür geplagt hatten. Auch in Tillholde rangen Bauern dem mageren Boden mühsam die Nahrung für das ganze Volk ab und sie war pflichtschuldig mit ihrem Vater über die Felder geritten, um sie zu besuchen, aber mit dem Herzen war sie nicht dabei gewesen.
Tidis bestellte nicht nur ihren Garten und versorgte ihre Tiere. Sie machte lange Streifzüge durch den Wald und sammelte die Kräuter, Wurzeln und Gesteine, die sie für ihre Heilmittel brauchte. Manche mussten im ersten Licht der Dämmerung geschnitten werden, andere im Schein des Mondes und sofort in eine Lösung aus klarem Weingeist gelegt werden, damit ihre Heilkräfte erhalten blieben, und diese Gefäße musste Tidis mit sich tragen. Wurzeln und Mineralien musste sie mühsam ausgraben, heimschleppen und verarbeiten, alles mit äußerster Sorgfalt und Genauigkeit, sollte nicht die ganze Arbeit umsonst sein. Tidis hatte ihr die Kräuterküche gezeigt und alles ausführlich erklärt, und Ninian war erleichtert gewesen, dass nicht sie diese eintönige und langwierige Arbeit zu tun hatte. Deshalb ging Tidis manchmal gebückt wie eine alte Frau und mit einem Mal war Ninian das Stadtleben nicht mehr gar so widerwärtig erschienen.
»Arme Tidis«, hatte sie gesagt, »sie hat wirklich von morgens bis abends zu tun, um sich zu versorgen. Alles muss sie allein machen und jetzt versorgt sie auch noch uns. Eigentlich sollte man ihr helfen ...«
»Ganz recht«, hatte Jermyn erwidert »eigentlich sollte man das. Leider, leider hat sie mir jede Anstrengung verboten.«
Seelenruhig hatte er in seinen Apfel gebissen und vielsagend seinen verletzten Fuß gehoben. Danach war ihr nichts anderes übriggeblieben, als aus der Hängematte zu klettern und ihre Hilfe anzubieten. Tidis
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