AvaNinian – Erstes Buch (German Edition)
Beine, »kann man dich jetzt anfassen?«
Als sie nickte, trat er zu ihr und umklammerte ihre Arme.
»Ninian, du ...«
Seine Stimme wurde dunkel und lockend. Verwirrt senkte sie den Blick. Nun war es so weit, diesen Augenblick hatte sie ersehnt und gefürchtet.
»Ninian, kannst du klettern?«
»Was?«
Verblüfft riss sie die Augen auf.
»So wie im Haus der Weisen. Es geht um eine schwierige Mauer, man muss gut in Form sein und ich frage dich, ob du mit mir dort hochsteigst.« Er schüttelte sie ein wenig ungeduldig. »Sag schon, es ist wichtig.«
Sie machte sich los.
»Sicher kann ich klettern. In den Bergen bin ich viel herumgestiegen, keine Mauern, aber Felswände. Was heißt gut in Form? Reicht dir das?«
Aus dem Stand sprang sie an die untere Eisenstrebe der Laterne und zog sich hoch, bis ihr Kinn auf der oberen Strebe ruhte.
»He, schon gut, komm runter«, rief Jermyn besorgt, als die rostige Verankerung in der Mauer bedrohlich knirschte. Sie ließ sich fallen und stemmte die Hände in die Hüften.
»Und was soll das Ganze?«
»Ein Einbruch, eine große Sache, eine wirklich große Sache. Aber ich kann ihn nicht alleine machen, ich brauche einen zweiten Mann und ich kann mir keinen besseren vorstellen als dich – sozusagen«, er grinste und fuhr leidenschaftlich fort: »Du wärst perfekt, du kannst klettern, dich wehren, wenn es sein muss und ich vertraue dir, mehr als jedem anderen Menschen. Ninian, komm mit und hilf mir. Ich fange beinahe an, an die Götter zu glauben ...«
Er brach ab und sah sie hoffnungsvoll an.
Ninian schwieg. Sie hatte etwas anderes erwartet, aber wenn sie tat, was er wollte, sagte sie sich unwiderruflich von allem los, was ihr bisher wichtig gewesen war.
Wenn sie bei ihm sein wollte, musste sie sein Leben teilen, ein Leben ohne Gesetz, auf Kosten anderer, als Diebin und Einbrecherin. Widerstrebte ihr das, so musste sie jetzt gehen und das Angebot des Kaufmanns Ely ap Bede annehmen, einen anderen Weg gab es nicht für sie.
Sie sah in das erregte Gesicht vor sich, die stechenden schwarzen Augen unter den lächerlichen Stacheln, die halb verheilte Stirnwunde – ein zwielichtiger Bursche. Die Eltern und Tanten, die guten Väter, Ely, alle würden ihr abraten, sich mit ihm einzulassen. Aber sie schienen ihr wie bloße Schemen, blutleer und blass. Nur Jermyn war lebendig, er war alles, was sie wollte.
Sie holte tief Luft. »Ich mache, was du machst. Darum bin ich hier!«
Er riss sie in die Arme und schwenkte sie einmal herum. Dann schwang er ihren Beutel über die Schulter, ergriff ihre Hand und zog sie mit sich fort. Er schlug einen schnellen Schritt an und während des Laufens sprachen sich nicht.
Als sie das Brachfeld erreichten, stieg der Mond über den Horizont und Ninian blieb mit einem Ausruf des Erstaunens stehen.
Jermyn, der schon ein Stück weitergelaufen war, kam zurück.
»Was ist los?«, fragte er, »bist du müde? Es ist nicht mehr weit.«
Ninian schüttelte den Kopf.
Nach Atem ringend, starrte sie auf das Bild grandiosen Verfalls. Schweigend lagen die Ruinen gewaltiger Bauwerke im unbarmherzigen Licht. Zerbrochene Bögen, einsame Säulenreihen, die keine Dächer mehr trugen, Fassaden mit leeren Fensterhöhlen, dazwischen Berge von Schutt. Die Reste der Marmorverkleidung warfen den Mondschein zurück und das Wechselspiel mit den scharfen Schatten schuf eine bedrückende, unwirkliche Landschaft aus Schwärze und Silber. Bei Tag musste es ein trostloser Anblick sein, jetzt verschlug er Ninian die Sprache.
»Was ist das?«
Jermyn sah sich verblüfft um.
»Das? Das ist nur das Ruinenfeld. Ich wohne hier ...«
»Hier, in den Trümmern?«, fragte Ninian ungläubig. Er lachte.
»Sogar in einem Palast, etwas schäbig vielleicht, aber bestimmt nicht schlechter, als du es gewohnt bist. Komm jetzt, wir müssen das Mondlicht ausnutzen. Du wirst das ganze Geröll noch besser kennenlernen, als dir lieb ist«, er grinste übermütig, »es gibt keinen besseren Übungsplatz zum Klettern.«
Er lief weiter über die gesprungenen Platten der alten Straße und Ninian folgte ihm vorsichtig.
Als sie den Palast betraten, bedeutete er ihr leise zu sein. Es war besser, ihre Anwesenheit vorerst geheim zu halten, Wag konnte nicht dicht halten und Duquesne war ihm vielleicht schon auf den Fersen. Außerdem wollte er sie wenigstens eine Weile nur für sich allein haben.
Sie beachtete ihn nicht. Den Kopf zurückgelegt, stand sie an der Tür und starrte zur Decke empor, wo der
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